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Traum einer Nacht


Ich befand mich in einer riesigen Bahnhofshalle. Ein schmutziges Glasdach spannte sich weit über den Bahnsteig, auf dem ich stand. In alle nur erdenklichen Richtungen führten Schienen, die zum einen rostig und von Pflanzen überwuchert, zum anderen silbrig glänzend dalagen. Dann, still auf einer Bank sitzend, wartete ich darauf, was geschehen sollte.

Der Mond und die Sonne waren mehrmals über den Himmel gewandert, als mir die Zeit als solche wieder bewußt wurde. Meine Schuhe und andere Kleidung waren von einer Staubschicht überzogen; ich mußte eine Ewigkeit auf der Bank gesessen haben. Ein wie durch einen Stromschlag ausgelöstes Zucken durchfuhr meinen Körper und eine fremde Kraft schien mich zum Aufstehen zu zwingen.

Mir schien es, da sich keine vernünftigen Alternativen boten, am sinnvollsten diesem Befehl zu gehorchen. So stand ich auf und bahnte mir einen Weg durch Abfälle unserer Gesellschaft. Es lagen unzählige Mengen an Dosen, alten und zerfledderten Zeitungen, verrosteten Fahrrädern, aufgeweichten Büchern, Scherben von zerbrochenen Gefäßen, Tellern, Gläsern und Vitrinen, Berge von Essensresten und verhungerten Menschen ähnlichen Gebilden umher. Ich zog mir aus einem Haufen einen Brotleib heraus und aß, womit ich einem Gefühl von Hunger nachkam, das sich in mir breit machte. So schritt ich weiter auf einem festen Weg durch den Müll, dem zu folgen mir vorgeschrieben war.

Von einer Plakatwand sahen seine Augen wieder auf mich herab, dieser Ausdruck von zerbrochener Hoffnung, unerträglichen Schmerzen, Angst und Wut auf die Ungerechtigkeit der Welt. Sein Blick schien nach dem ewigen «Warum» zu fragen, «warum bin ich an AIDS erkrankt?» Doch die Welt blieb ihm die Antwort schuldig.

Er hatte nicht verzeihen können, seine letzten Worte,: «ich wünsche ihnen alles Schlechte», dröhnten plötzlich durch die Hallen, verloren sich kreisend in der Unendlichkeit. Hatten wir ihm verziehen?

Von seinen Blicken verfolgt ging ich weiter, von irgend etwas getrieben, angezogen. Plötzlich eröffnete sich vor mir die Schalterhalle, welche zwar völlig leer schien, aber auf eine unbestimmte Art mit Lebendigkeit gefüllt war. Hinter der Trennwand eines Schalters saß jemand, vielmehr irgend etwas, nur schien er mich erst nicht zu registrieren. Nachdem er mich aber dann doch zu bemerken schien, stellte ich ihm Fragen über Züge und Abfahrtzeiten.

Mir einer Antwort schuldig bleibend, fragte er mich, wer ich denn sei. «Mensch», entgegnete ich ihm ohne weiter darüber nachzudenken. Daraufhin war die Halle von einem dröhnendem Gelächter erfüllt, das dann nach einigen Minuten von Lautsprecherstimmen überschallt wurde. «Die Züge der Menschen sind alle bereits abgefahren», rief sie aus.

Von der Aussage wenig berührt verweilte ich noch einige Zeit in diesem Teil des Bahnhofs, bis von irgendwoher Stimmen an mein Ohr drangen. Sie kamen von Plakatwänden, die in unmittelbarer Nähe aufgestellt waren. Auf ihnen waren Münder abgebildet, lachende, schreiende, weinende, stöhnende; die einen riefen laut irgendwelche Parolen, andere fluchten oder lallten verstört Entschuldigungen für irgendwas. Zwei, drei unter ihnen waren dazu verdammt, Werbesprüche vorzuplappern. Und wieder andere sagten literarische Werke großer Meister auf, wobei die Stimme den Worte durch die Betonung eine hämisch grinsende Maske aufsetzte.

Einige Zeit lauschte ich dem lärmenden Geplapper, dann zog es mich zurück zum Schalter, zurück zu dem Irgendwas, das mit mir persönlich gesprochen hatte. Erneut drang die Frage nach «Meinem Sein» in den Kopf. Ich schrie laut, schrie und rief dann wütend, daß ich ein Gott sei. Sogleich verschwammen die festen Wände, ordneten sich neu und bald umgab mich ein enger dunkler Raum.

II
«Schuldig! Schuldig! Schuldig!» So donnerte es von überall her in den verschiedensten Stimmlagen. Sobald diese Rufe verschallt waren, schien eine Bestrafung, ohne daß ich den Grund wußte, zu erfolgen. Gedanken die überall gehangen hatten, stürzten auf mich ein, bohrten sich langsam und äußerst schmerzhaft durch mein Schädeldach, pflanzten sich ins Gehirn, wo sie sich dann zu sinnvollen Strukturen verbanden, Farbe und Gestalt annahmen.

Ich verspürte die Schmerzen eines verhungernden Kindes, Schüsse zerfetzten meine Beine. Dann raste plötzlich, eine Frau lag mit ihrem nackten Körper neben mir und wir sprachen leise miteinander, ein LKW auf uns zu, schleuderte mich in ein riesiges Meer, in dem ich jämmerlich ertrank. Dann, spielend mit einigen Freunden, wir waren wohl um die zehn Jahre alt, stand ich bald in einem dichten Wald, bald lag ich als Greis im Totenbett.

Es zogen Kriege und kurze Perioden von einem Frieden durch die Welt. Ich war immer mitten in ihnen. Erlebte, durchlebte, spürte all den Haß, die Liebe. Alle diese Erlebnisse, einzeln erlebt, hätten den Wahnsinn zur Folge gehabt. Hier lebte ich sie gleichzeitig und so behielten sie eine unbestimmte Art von Ausgewogenheit.

Ich wurde geliebt und gehaßt, ermordet und geboren, lernte und vergaß wieder. Zeit hatte aufgehört zu existieren und dann löste ich mich langsam aus meinem Körper, wurde alles, war wieder Körper, umfaßte auch ihn und doch verlor ich gleichzeitig jeglichen Bezug zum Festen und damit auch zum Gegenteil. Alles löste sich zu Nichts auf, wodurch alles entstand. Und dann in einen wundersamen Klang gewebt erschienen Worte ohne selbst zu sein:

 
Hell zerbricht des Spiegels Glanz,
Der dir im Sterben vorgeführt.
Gibt frei den Blick auf das,
Was einst du mal gewesen.
Im Strom der ewigen Gezeiten
Such, was dir das Leben nahm
Und gib dich der Unendlichkeit,
Die all das Nicht umfangen hält
Gelassen hin.
 

Die Worte  verklangen bald und ich war wieder auf dem Bahnsteig. Er war angefüllt von Leben, dem ich mich fließend zugesellte. Die Menschen still beobachtend bis sie, wie eine Pflastermalerei im Regen langsam verschwammen und ich erwachte.............
 

 
 


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© baraka | bernd schach