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Gelbe Tränen


Sie wollte leben. Am Anfang noch wollte sie es schaffen. Sie, das einst junge Mädchen, mit dem Berg der Zukunft am Horizont. Jahre vergingen, sie lernte die Sonne kennen, den Frost in den kalten Wintertagen. Begann sich über das frische Grün der Blätter zu freuen und wußte schon, daß bald, wenn sich das Laub der Bäume in die vielen bunten Farben wandelte, der Winter hereinbrechen würde.

Ein neuer Winter, ein Winter, in dem sie vor vielen Jahren als Kind zur Welt kam. Die Küche war immer der warme Platz im Haus, hier roch es am Wochenende nach Bratäpfeln. Hier trockneten ihre feuchten Socken und der Pulli, wenn sie naß vom: «durch den stürmenden Schnee laufen», nach Hause kam.

Sie wuchs, wurde älter, betrat immer neue Traumwelten und versuchte sich ihren Wünschen und Bedürfnissen anzupassen. Es begann die Zeit der Freundschaften, die eine Zeit des: «Streit mit den Eltern» ablöste, der eine Zeit des: «Willst du meine beste Freundin sein» vorausgegangen war.

Die ersten Jungen traten in das Haus ihrer Eltern, wurden begutachtet und anfangs belächelt. Die Jungen wurden zu Männern und als die Eltern begannen Sorgen und Kritik zu äußern, zog sie aus. Verließ die Küche und das Zimmer, das sie mit ihrem Bruder teilen mußte, bis er auf einer Landstraße, auf seinem Motorrad sitzend, mit einem Lastwagen zusammenstieß.

Es begann eine Zeit der Freiheit, ein Lebensabschnitt, in dem selbst die Kreisen und Unstimmigkeiten mit den Freunden nicht das Gefühl der Freude am Leben und das: «so sein wie man ist», nehmen konnten.

Ihre Lehrzeit war vorüber und immer öfter traf sie sich mit ihm, dem Mann aus dem kaufmännischen Bereich, der schon Geld verdiente, der schon etwas war, in ihren Augen, in den Augen seiner Mutter, nicht aber in denen der Ihren. Zwischen dem «kein Umgang für dich» und dem «Ich liebe dich» pendelte sie umher, bis sie mit ihm zusammenzog.

Von Zeit zu Zeit pendelte sie nun bei ihren Eltern vorbei, saß in der Küche, wo sie mit der Mutter sprach, die schon die Bratäpfel für die Kinder im Ofen hatte, voller Glück über die Enkel.

Die Eltern starben, sie durfte noch leben, fand halt in der eigenen Familie, halt auch in der ihres Mannes.

So hätte es ein Lebenlang weitergehen können, so hätte sie sterben können, vom Glück ihrer Familie und der Freunde umgeben. Oh hätte sie doch nur ein Blitz aus dem hellen, warmen Sommertag gerissen und in die Dunkelheit der kalten Nacht geschleudert. Fortgerissen aus den Weltachsen, aus diesem Gefügen von Glück und Unglück, von Liebe und Ver-zwei-feln.

Aber das Sterben kommt schleichend und mit Vorankündigung. Die Haut wird gelber, der Bauch schwillt an. Eine Hepatitis folgt der anderen. «Hep.B + C» sind bald im Körper manifestiert es kommt zu einer «Hep. A». Sie liegt alleine auf einem Zimmer, ist infektiös - oder nicht? Ihr Mann besucht sie. Der Mund von Frau M. ist blutig, die Lippen sind aufgebissen. Die Haut von tiefen Kratzspuren der nächtlichen Juckerei durchfurcht.

Eine Schwester hat die Nägel gestutzt. Die Krallen sind entschärft, sie hatte einmal schöne Fingernägel, lang und gepflegt.

- Ob ihr Mann es liebte, wenn sie ihm damit durch die Haare wuselte? -. Er steht an ihrem Bett. «Wo ist ein Arzt?», ist seine Frage, in der eine tiefe Besorgnis mitschwingt.

Lieber Herr M., sie brauchen keinen Arzt - mehr. Ihre Frau, sie brauchte eine neue Leber, wird sie aber jetzt nicht mehr bekommen. Ein anderer Mann liegt auf der Intensivstation, ihm gehört die nächste, wenn er noch lange genug warten kann. Wenn nicht ist da noch die Einundzwanzigjährige. Ihr Körper ist noch jung. Und er braucht auch eine neue Leber. Nein, hier sind keine «Halbgötter in Weiß» tätig - oder doch?. Hier wird nur der Sinn eines Lebens durch ein gesellschaftliches Raster gesehen

Gemeinsam stehen wir am Bett. Ich trage Handschuhe, meine weiße Schutzkleidung, er seinen Anzug und die Aura der Liebe - ob sie ihn schützt. Ihre blutigen Finger streicheln seine Haut, er ihre blutverschmierte. Die gelben Augen suchen verzweifelt nach irgend etwas, finden halt in seinem Gesicht. Ein Gesicht von tiefen Furchen und Falten der Angst gezeichnet. Die Patientin, seine Frau spricht verschwommen. Greift Worte auf und gibt sie zurück. «Darf ich ihnen ihr Thermometer geben» frage ich?, worauf sie verstört antwortet: «Ich habe es wirklich nicht nach ihnen geworfen, oder Schatz, hab ich das?»

Der Mann, schaut immer fremder, die Frau wird immer befremdlicher. Ist sie meine Frau? Ist dies meine Frau? Ist dieser angeschwollene, fleischige, mit Aszitis vollgelaufene, ödematöse Kloß, der hier gelb wie ein Postpaket im Bett liegt meine Frau? Angst steigt in ihm auf, er möchte etwas von mir als Antwort.

Eine Antwort, auf eine Frage, die er sich nicht zu stellen traut. Der er sich noch nicht stellen möchte. Sie wollte leben. Doch dieser Wunsch ist längst schon in den weißblutigen Kissen des Bettes versunken.

Der Mann hält ihre Hand, entläßt sie dann in die weiche Schaumstoffmatratzeloß, und verläßt mit dem Satz: «Ich muß einen Arzt sprechen - sofort», das Zimmer. Frau M. sucht traurig mein Gesicht. Ihre Augen sind feucht. Es bilden sich Tränen, die die Wangen hinunter laufen. Sie wollte leben. Am Anfang noch wollte sie es schaffen. Sie, die Frau, die älter aussieht, als sie es in Wirklichkeit ist.

Wo ist ihr Berg der Zukunft am Horizont. Jahre sind vergangen, sie hat das Leben kennengelernt, die Sonne, den Frost in den kalten Wintertagen. Sie freute sich einstmals über das frische Grün der Blätter und wußte schon, daß bald, wenn sich das Laub der Bäume in die vielen bunten Farben wandelte, der Winter hereinbricht.

Und nun liegt sie in der weißen sterilen Welt und weint. Weint gelbe Tränen, die die Wangen hinunter laufen und das sterile Weiß des Kissens mit kleinen rundlichen Kreisen, mit ihren Farben verfärben.

 
 
 
 


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© baraka | bernd schach