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Warum hast du...,


... die Frage erübrigt sich. Sie hat einfach. Und gehandeltes Handeln bedarf nicht eines «Warum» mehr. Vor zwei Tagen, da hätte es geholfen, hätte sie aufhorchen, vielleicht aufhören lassen - aber heute? Jetzt ist es nur noch der vergebliche Versuch von Freunden und Verwandten einen Sinn in die Sache zu bringen.

Ihre traurig, gelben Augen sehen mich an, als ich die Manschette des Blutdruckmessgerätes um ihren Arm lege und vorsichtig, ihren Puls fühlend, den Druck in der Manschette erhöhe, bis ich das Schlagen ihres Herzen nicht mehr mit meinen Fingerspitzen fühlen kann. Langsam lasse ich die Luft entweichen und sage der Patientin den Wert. Alles in Ordnung!

Oder doch nicht? Ihr Blick bleibt auf mir haften. Sie schaut mißtrauisch. Ich stelle ihr eine Frage. Wer fragt, führt das Gespräch. Sie muß antworten, eine erste Möglichkeit Kontakt herzustellen.

Ihre Versorgungsleiste funktioniert nicht. Ich hohle eine Neue. Etwas Vertrauen? Sie fragt, ob ich schon ihre Blutwerte kennen würde? «Ja», erwidere ich, «sie sind noch schlechter geworden, als sie es heute Morgen schon waren». In ihren Augen kommt wieder das Schimmern der Angst. Ich frage, obwohl sich fast alles in mir sträubt, das: «Warum». Warum haben sie das gemacht? «Was»? Sie möchte wissen, wie viel ich schon weiß. Ich habe ihr nur wenig zu verheimlichen.

«Das mit den Tabletten, man schluckt doch nicht einfach so dreißig Tabletten Paracetamol. Und warum gerade dieses Medikament. Das ist doch dumm. - Nein, ich sage ihnen nicht, was besser gewesen wäre, aber wie kommt man auf die Idee, sich mit einem Schmerzmittel umzubringen».  Sie hält den Blickkontakt, möchte Sprechen, oder doch nicht? Augenblicke vergehen.

Langsam bewegen sich ihre Lippen. Sie ist, in meinen Augen, eine schöne Frau. Ihr Gesicht drückt etwas von erlebter Erfahrung aus, obwohl sie noch keine dreiundzwanzig Jahre auf der Erde lebt. Sie läßt ihre langen, schlanken Finger durch ihre kurzen, schwarzen Haare laufen, ihr Körper steckt in einem unserer weißen Op-Hemden. Dieses Weiß verstärkt den Farbton ihrer Haut, die schon tief gelb ist - «oh Gott, wie schnell das geht».

Sie läßt ihren Blick die Wand entlang wandern, verharrt dann auf dem Boden. Unerwartet stellt sie wieder den Blickkontakt zu mir her, wieder  diese gelben, traurigen Augen, und sie erzählt:

«Mein Vater ist kürzlich gestorben. Einfach so. Ohne Vorankündigung. Ohne ein Vorzeichen. Morgens ist er nicht mehr aufgewacht. Meine Mutter schrie. Schrie. Schrie so lange, bis ich erwachte. Ich sah ihn, blaß in ihrem Schoß liegen, über sein Gesicht rannen Tränen, die aus ihren Augen flossen, in einem breiten Fluß hinunter zu seinem Hals und versanken irgendwo in der alten Matratze.

Wie angewurzelt stand ich da, in einer anderen Welt gefangen schwebend, bis Worte, die sich in dem Schluchzen meiner Mutter bildeten, an mich heran drangen. «Tu doch was. Los! Ruf einen Arzt». Mit diesem Befehl kam wieder etwas warmes in meine Ohnmacht. Ich hatte etwas, an das ich mich klammern konnte, einen Auftrag. Mechanisch wählte ich die Tastenkombination, als nach dem mehrmals wiederholten Freizeichen ein Anrufbeantworter ertönte. Ich schrieb eine Nummer auf, wählte auch diese und dann, endlich, eine menschliche Stimme.

Es konnte nicht lange gedauert haben, da betätigte draußen jemand die Türschelle. Ich öffnete. Er rannte springend die Treppe hinauf, untersuchte kurz. Fragt dann, langsam und ruhiger werdend, wie lange er schon so liege, und sagte uns dieses einfache Wort: «TOD». Wir hatten es geahnt, doch nun war es Bewußtheit geworden.

Hast du schon mal einen Toten gesehen? - Ja sicher hast du. Dumme Frage - Aber deinen Vater. -  Nein, ich habe ihn nicht geliebt. Wir konnten uns nicht leiden, irgendwann aber wollte ich darüber mit ihm reden, ihm es einfach entgegenschreien, wenn er wieder nichts mehr von mir hören wollte. Doch nun ist Stille. Alle Menschen gehen einfach immer still und feige den Problemen aus dem Weg, schweigen sich an, bis Sie schweigen müssen. So hat ER es auch immer gemacht.

Als die Freundin meiner Mutter, eine Nachbarin, kam, ging ich. Ich wollte rauß, mußte rauß. Zu meinem Freund konnte ich nicht. Mein Freund hat vor ein paar Tagen die Beziehung beendet.

Nein, hätte es auch nicht gewollt. Ich wollte alleine sein, laufen. Nicht mehr denken. Kennst du das Gefühl? Es ist wie eine Art Müdigkeit. Ja, ein Gefühl, daß dir vermittelt, daß du unsagbar müde bist. Es wird zu deinen Gedanken. Wird dein Gedanke. Schlafen. Einfach schlafen.

Dieses «Schlafen» ist plötzlich überall in dir, in den Beinen, du kannst nicht mehr laufen. In den Armen, du willst alles fallen lassen. Dich fallen lassen. Ein schwereloses, traumloses fallen.

Schlafen, ich will schlafen. Und kein Traumprinz soll da am Ende stehen und mich wach küssen. Keiner soll mir die Hand reichen und sagen: «Los, komm, laß uns gehen». Ein dämmerndes Hängen wie in einem Kokon. Wenn es sein soll, schlüpst du, wenn nicht, dann holt dich die faulende Feuchtigkeit des Frühlings. So hängst du im Wind, der dich schaukelt, der dich hält, in deiner eingesponnenen Abgeschiedenheit.

Hängen im Wind und schlafen, daß ist es, wonach du dich sehnst. Abgeschirmt, in deiner eigenen Wärme, warten, schlafen. Alleine im Wind. - Alleine kam ich auf die Welt. Alleine werde ich sie auch wieder verlassen. Und bis zu diesem Zeitpunkt, dem der Errettung, von dem ich nicht einmal weiß, ob es ihn gibt, will ich schlafen. Von einer Sekunde zur anderen im Strom der Gezeiten hängen.

Keiner ist da, der sich um mich sorgt, keiner lebt, um den ich mich sorgen muß. Geht es mir schlecht, dann ist es halt so. Wenn die Medizin dir keine Chance mehr gibt, dann halt nicht. Irgendwann währe es doch eh zu Ende gewesen, mit dir.

Erleben! «Du hast noch nichts erlebt», sagen sie zu mir. Ich sei noch so jung. Waren andere das vor mir nicht auch? Werden mir nicht unzählig viele andere nachfolgen? Vergessene Kinder, Freunde, Greise, Männer, Frauen, Verzweifelte, Verliebte, Alkoholiker, Kranke. Sie alle werden mir folgen, wie auch ich ihnen schon längst folge. Hinein in die Sackgassen der Erinnerungen. Überall kann man sie lesen, die Worte und Gedanken der großen Persönlichkeiten und Denker. Bleiben werden aber nur namenlose Worte.

Und auch sie zerfallen irgendwann, diese stummen Andenken an eine Zeit, die es doch eigentlich nie hätte geben müssen. Eine Zeit, die genau so leer war, ist, sein wird, wie ich mich nun fühle.

Weißt du, es gibt auch bei mir Tage voller Hoffnung, Tage, an denen ich mit allen kämpfen könnte, aber warum, wofür denn nur. Es lohnt sich doch nicht, für irgendwas zu sein, für irgendwas zu leben. Im Park schlendere ich  umher, allein mit meinem Schatten, beobachte

die Pärchen auf den Bänken. Die sich paarenden Tiere, es ist Frühling, überall nur diese Zweisamkeit. Aber wofür? Um zu merken, daß auch irgendwann wieder «Alleinsein» angesagt ist?

Meine Oma sagte mir, ich sei ein Spötter. Ich wolle vor dem Herrn Mitleid erregen. Ihn so zum Handeln zwingen. Aber ich schleudere niemandem meinen erbärmlichen Zustand entgegen, nicht der Welt, nicht den Menschen und erst recht nicht einem Gott.

Auflehnen gegen ein Schicksal, das ich nicht verstehen kann, gegen einen Gott, der nicht hört oder sieht? Lächerlich. Alles ist nur in einer leeren, kalten, grausam-einsamen Welt gebettet. Was es gibt, ist von deines Gleichen gemacht. Kein Wunder! Nackt und einsam sind wir hier, ohne Zukunft! Ein Urteil wird an uns vollstreckt. Einmal Lebenslänglich, wurde jedem von uns zugesprochen. Ohne Begnadigung. Schlimmer noch. Nicht mal ein Richter vor dem du flehen könntest, gibt es auf diesem verfluchten Planeten.

Also, warum nicht dem Schmerz entgehen, warum nicht einfach diese Tabletten schlucken? Warum nicht noch die Schlaftabletten hinterher und nicht mehr aufwachen. Es gibt nichts zu verlieren. Wir sind wie Schiffbrüchige auf einem Floß. Immer noch hoffend, Ideen spinnend, auf Rettung wartend, obwohl die restliche Welt leer ist, und wir es eigentlich auch wissen. - Darum.»

Irgendwann ist sie dann verblutet, die junge Patientin, die nicht mehr leiden wollte. Ein Tod auf Raten. Sie war zur Lebertransplantation gemeldet worden, aber es ist niemand mehr rechtzeitig gestorben, um ihr Leben retten zu können.

Was bleibt von Ihr? Ich weiß es nicht. Gehe alleine durch den Park, meine Schuhe versinken im Matsch der Wiese und im Wasser der Pfützen. Aber sie hat recht. Überall sind Pärchen und die Erpel balzen auch schon um die Gunst des Weibchens.
 

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© baraka | bernd schach