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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 1


 
 


Tao, kann es ausgesprochen werden,
Ist nicht das ewige Tao.

Der Name, kann er genannt werden,
Ist nicht der ewige Name.

Das namenlose ist des Himmels und der Erde Urgrund,
Das Namen-Habende ist aller Wesen Mutter.

Darum:
»Wer stets begierdenlos,
Der schauet seine Geistigkeit,
Wer stets Begierden hat,
Der schauet seine Außenheit«.

Diese Beiden sind desselben Ausgangs
Und verschiedenen Namens,
Zusammen heißen sie tief, des Tiefen abermal Tiefes,
Aller Geistigkeiten Pforte.
 
 



 

An den Anfang seines Buches stellt Lao-Tse den Grund alles Seins, da dieser auch Grund al-ler Erkenntnis und Lehre ist. Seinen Namen kennt er nicht; nur um ihn zu bezeichnen, nennt er ihn Tao (s. Kap. 25). Es handelt sich um die Doppelheit des Tao, wonach es einmal verbor-gen, geheimnisvoll und daher unaussprechlich und unnennbar, dann aber auch sich erweisend und offenbar, daher aussprechlich und nennbar, weil sich selbst aussprechend, ist; in dieser Beziehung entspricht es dem »logos« (Wort). Das ,Wortspiel, das der erste Satz enthält, deutet dies an; denn »ausgesprochen werden« heißt ebenfalls »tao«, nur mit veränderter Betonung, aber mit demselben Schriftzeichen.

Einmal demnach ist Tao, sofern es ein sich selbst Aussprechendes, mithin Wort, ist und somit ins Wort, wenn auch nur andeutend, gefaßt werden kann; und dann, sofern es in sich verhar-rend und unveränderlich das Beständige, Ewige ist. Als dieses ist es reines vor- und übersei-endes Wesen, das auch erst sein Sein setzt, also der absolute Grund sein selbst, während es in dem zweiten, dem Aussprechlichen, sich als seiend setzt. So sagt Meister Eckhart:

»Die Vernünftigkeit will nicht Gott, als er Gott ist. Warum? Da hat er Namen; und wären tau-send Götter, sie bricht immer mehr durch, sie will ihn da, da er nicht Namen hat«.

Himmel und Erde sind dem Chinesen nicht nur die ganze gestaltete Welt, als vielmehr die beiden Grundpotenzen derselben, aus denen sie erst wird; lebendige Substanzen und Mächte, von denen die eine übersinnlich und immateriell, die andere Sinnlich und materiell ist. Die gestaltete Welt ist durch den Ausdruck: »alle Wesen, oder Dinge« (w.: 10 000 Wesen) be-zeichnet. Das »nicht Namen Habende», das Namenlose, weil Unnennbare, ist der Urgrund oder Anfang von Himmel und Erde was daran erinnert, daß Gott auch (Offenbarung, 8) sich den Anfang nennt. Die Grundlegung der Welt wird also hier, ähnlich wie im ersten Vers der Genesis, beschrieben. Von Tao, dem Namen Habenden, wird gesagt, daß alle Dinge durch sein Wirken geworden seien, dies wird mit dem Ausdruck bezeichnet, es sei »aller Wesen
Mutter« (s. a. Kap. 25, 52).

Obgleich nun Lao-Tse neben der männlichen (Kap. 4, 70) auch eine weibliche Potenz (Kap. 6) in Tao erkennt, wie er denn auch im Manne neben dem Männlichen ein Weibliches (Kap. 28) annimmt, so dürfte der Ausdruck hier in Hinsicht auf das namen-habende Tao und die Weltwesen doch nur bildlich in dem Sinne zu verstehen sein, daß dasselbe die Dinge zwar in sich gestaltet, nachdem deren Substanz von dem Namen-losen gesetzt ist, sie dann aber, wie eine Mutter ihre Kinder, in ein selbständiges, von ihm abgelöstes Dasein heraustreten läßt, wobei es sie gleichwohl auch ferner stetig umfaßt, nährt, erzieht, vollendet und erhält (s. Kap. 51) Ähnlich sagt Meister Eckhart, daß »Gott nicht allein ein Vater ist aller guter Dinge, mehr: er ist auch eine Mutter aller Dinge. Im 42. Kapitel werden wir sehen, daß Lao-Tse für die Ent-stehung der Dinge nicht nur das Namenlose und das Namen-Habende, sondern auch ein Drit-tes als Wirkendes voraussetzt; und wie nahe er dem reinen Schöpfungsbegriff gekommen, wird Kap. 40 zeigen, wo es heißt: »Alle Weltwesen sind entstanden ans dem Sein, das Sein ist entstanden aus dem Nichtsein«.

Der Anfang des Kapitels soll zu der reingeistigen Anschauung des Absoluten erheben, das zugleich als Weltursache bestimmt war. Diese seine Vollkommenheit und reine Geistigkeit kann nur, wie es in dem Zitat heißt, von dem erschaut werden, der sein Herz beständig frei er-hält von der Unruhe und Trübung durch die Begierden, da sie als absolute Innerlichkeit nur in der tiefsten und stillste Verinnerlichung wahrzunehmen ist. So fern Tao aber Weltursache ge-worden ist, bilden die Myriaden Weitwesen seine Äußerlichkeit, Außenheit oder Umgren-zung, also das, was nicht das ewige Wesen ist, und an diesem bleibt der Blick dessen haften, der sich beständig dem Begehren, Wünschen und Trachten des Herzens überläßt, so daß er Tao selbst nicht mehr zu erschauen vermag.

Von »diesen Beiden«, dem Namenlose, und dem Namen-Habenden, wird zweierlei Entgegen gesetztes ausgesagt; in ihrem Ausgehen sind sie identisch, in ihren Namen verschieden. Das »Aus gehen« der beiden schöpferischen Potenzen ist die ursprüngliche Fortbewegung, durch welche die erste »des Himmels und der Erde Urgrund«, die zweite »aller Wesen Mutter« ge-worden, was allgemein dahin zu erweitern wäre, daß es überhaupt die Weltwirksamkeit dieser beiden bezeichne, so fern sie in derselben von ihrer ursprünglichen Stille und Leere »ausge-hen«. Daß sie aber in diesem Ausgehen und um so mehr ihrem Wesen nach als eins und das-selbe anzusehen sind, zeigt das 25.Kapitel, wo von Tao, dem Urwesen, sowohl der ewige, un-bewegliche Bestand, als auch der Fortschritt zum Mutter-der-Welt-Werden ausgesagt wird. Werden sie nun »verschiedenen Namens« genannt, so scheint dies dem zu widersprechen, daß das erste als das »Namenlose« bezeichnet wurde. Allein, es war vorher gesagt, daß der Name, den man nennen könne, nicht sein «ewiger Name» sei; es hat mithin einen «ewigen Namen». den man nur nicht nennen kann – oder auch nicht nennen darf.

Die Identität des unnennbaren Urwesens, des überseienden Absoluten, mit dem aussprechli-chen, also sich offenbarenden Tao ist das Äußerste, wo zu die Erkenntnis aufsteigen kann; diese Identität selbst läßt aber keine weitere Forschung zu; hier verliert sich für das Erkennen alle Unterscheidung: »Man schaut in absolute Tiefe, die nur sich selber zum Untergrund hat, des Tiefen abermal Tiefes. Die Grenze aller Spekulation, aber zugleich ihr unerschöpflicher Quellborn. Beide in ihrer Identität sind »aller Geistigkeiten, alles Geistigen Pforte«, Ausgang und Eingang, indem es von ihnen ausgeht und zu ihnen zurückkehrt«.
 
 





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