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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 2


 
 


Erkennen alle in der Welt des Schönen Schön-Sein
Dann auch das Hässliche;
Erkennen alle des Guten Gut-Sein,
Dann auch das Nichtgute.

Denn:
Sein und Nichtsein einander gebären
Schwer und leicht einander bewähren
Lang und Kurz einander erklären,
Hoch und Niedrig einander entkehren,
Ton und Stimme einander sich fügen,
Vorher und Nachher einander folgen.

Daher:
Der Heilige Mensch beharrt im Wirken des Nicht-Tun.
Wandeln, nicht Rede ist seine Lehre.
Alle Wesen treten hervor und er entzeiht sich ihnen nicht.
Er erzeugt und besitzt nicht,
Er wirkt und gibt nichts darauf,
Ist verdienstliches vollendet, besteht er nicht darauf.

»Weil er nicht darauf besteht,
Darum es ihm nicht entgeht«.
 
 

Im ersten Kapitel hatte Lao-Tse das große Prinzip des Universums eingeführt. Aus ihm entfal-tet sich seine Metaphysik und mystische Spekulation, ebenso aber auch der zweite Bestandteil seines Systems, die Ethik, die er dann an dem ethischen Ideal, dem »heiligen Menschen«, entwickelt.

Wenn alle in der Welt das Schöne als solches, als schön, erkennen, dann erkennen sie auch das Häßliche; wenn alle das Gute als Gut erkennen, dann erkennen sie auch das Nichtgute, das Böse. Das sittlich Schöne und sein Gegensatz, das sittlich Häßliche, wirken zunächst auf das Gefühl, jenes erfreulich und anziehend, dieses beleidigend und zurückstoßend, und es ent-springt daraus ein ästhetisches Urteil, das als solches das ethische Subjekt noch außer Be-stimmung läßt. Das sittlich Gute und das sittlich Böse aber wirken auf das Gewissen, dem das erste eine Befriedigung, eine Genugtuung, das andere Vorwurf und Beunruhigung ist.

Dadurch erweist sich jedem das Gute als gut, das Böse als böse. Der Grundgedanke der Verse besagt, daß reine Gegensätze durch ihr Verhältnis zueinander sich selbst exponieren, bedingen und setzen. Hier ist nicht die Rede von einer Folge, sondern von einem korrelaten Verhältnis beider, aber auch nicht von ihrer Gleichzeitigkeit allein. Da mithin das eine durch das andere erst ist oder wird, so kann der Vers mit Recht sagen, daß sich das Sein und das Nichtsein ge-genseitig hervorbringen, erzeugen oder gebären. »Schwer und Leicht vollenden einander«, d. h. der Begriff des Schweren wird erst völlig und fertig durch den Begriff des Leichten, und umgekehrt; sei nun die Rede von bloßem Gewicht oder von der Kraft, etwas zu vollbringen. »Lang und Kurz bilden, darstellen oder offenbaren einander«. »Hoch und Niedrig sehen sich schief an, kehren einander um«, indem sie sich durch ihren Gegensatz voneinander endfernen, während Ton und Stimme eben dadurch miteinander harmonieren. Vorher und Nachher schließen einander aus, sei es in bezug auf Zeit, Ort, Würde oder dergleichen, sind aber doch eins, das notwendige Ergebnis des anderen, da es ohne Vorher kein Nachher, ohne Nachher kein Vorher gäbe.

Daher besteht die besondere Aufgabe des heiligen Menschen, den eben das sittlich Schöne und Gute auszeichnet, sein Geschäft, sein Wirken gerade im Nicht-Tun, keineswegs aber im Nichts tun, im Quietismus; vielmehr hilft er allen Menschen, allen Wesen, tut wohl, wie und wo er kann, und erwirbt sich Verdienste; allein, bei allem tut er, als täte er nicht, und das ist der fernere Sinn des Nicht-Tuns in dieser Beziehung. Lao-Tse betrachtet hier als das einzige große Tun des Heiligen, durch die bloße Macht seines Vorbilds die Welt zu veredeln, und das ist kein Tun. Es ist ein Wirken ohne Werke. Dies besagt der paradoxe Ausdruck: Geschäft, Wirken des Nicht-Tuns, Tun ohne Tun.

Lao-Tse gibt nichts auf das Lehren und Lernen. Er weiß, daß man die schönsten Lehren der »Weisheit« und Moral keimen und für richtig halten kann, ohne selbst sich ihnen gemäß zu verhalten. Darum legt er allen Wert auf die überwindende Macht der Persönlichkeit als Vor-bild, welche die Lehre als lebendigen Stoff erzeugt und überträgt. Denn lehren soll der Heili-ge, aber durch seinen Wandel. Deshalb bedarf er nicht der Worte; er lehrt still schweigend. Dum tacet, clamat.

Worin der Wandel des Heiligen im wesentlichen besteht, wird nun ausgeführt (s.a. Kap. 10, 51, 77). Danach ist der heilige Mensch Tao ähnlich und gleicht ihm in seinem Tun, was er da-durch erreicht, daß er sein Herz von aller Weltzerstreuung entleert, sich allein an Tao hält und mit ihm eins wird. Alle Geschöpfe und vornehmlich die Menschen bedürfen zur Vollendung des heiligen Menschen seiner Hilfe, seiner Leitung, seines Schutzes und er weigert sich ihnen nicht denn er schaut nicht auf sich, sondern auf sie. »Er erzeugt, belebt und besitzt nicht, hat nicht«, d.h. er verhilft den Wesen zum Leben, fördert sie ins Leben und macht sich keine Ha-be aus ihnen, eignet sie sich nicht zu, nimmt sie nicht für sich in Beschlag; obgleich sie ihm das Leben verdanken, macht er keine Ansprüche auf sie. »Er wirkt, tut« alles an ihnen, was er vermag, und fragt nicht danach, macht sich keine Gelegenheit daraus, um Vorteil oder Ehre zu erlangen. Hat er alles getan, seine Aufgabe erfüllt, »sein Verdienst vollendet«, so geht er darüber hinweg und »weilt nicht« dabei.

Der wohl sprichwörtliche Reim ist auf alle Vorzüge anwendbar, die man nur hat, sofern man sie nicht als solche hat, sie sich nicht anzieht: »Wahres Verdienst ist nur dann vorhanden, wenn es dem, der es hat, als nicht vorhanden ist. Nur so bleibt ihm sein Verdienst«.
 
 
 






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