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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 4


 
 




Tao ist leer,
Und in seinem Wirken wird es nie gefüllt.
Ein Abgrund, oh!, gleicht es aller Wesen Urvater.

»Es bricht seine Schärfe,
Streut aus seine Fülle,
Macht milde sein Glänzen,
Wird eins seinem Staube«.

Tiefstill – gleich wie wenn es da währe.
Ich weiß nicht wessen Sohn es ist.

Es zeigt sich als Vorgänger des Herrn
 
 



 

Tao ist leer, und dabei gebraucht es diese Leere, um sie zu füllen, ohne dadurch selbst je ge-füllt zu werden. Indem Tao als leer bezeichnet wird, ist alles Gegenständliche aus ihm hin-weggenommen, und wird nur noch als das rein urständliche Wesen, als das absolute Subjekt gedacht. Nun verharrt es aber nicht in dieser bloßen Leere; es wirkt, es gebraucht und benutzt sie und setzt, was zunächst in ihr potentiell bloß sein konnte, als Seiendes in sie, womit es durch sein Wirken, durch diesen Vorgang (s. Kap. 21) zur Heraussetzung des durchaus Ge-genständlichen, d.i. des Universums, kommt. Dabei bleibt es in sich und bei sich, weil es im-mer noch größer ist als alles gegenständliche Sein, das es in jene Leere gebracht hat; denn es wird davon nie ausgefüllt.

Eben weil Tao nie gefüllt wird durch alles, was es in sich hervorgebracht hat, ohne daß es selbst es ist, ist es ein unendlicher »Abgrund«, dessen Tiefe das Geistesauge nicht durchdrin-gen, in dem es nichts Unterscheidbares mehr wahrnehmen kann; denn der letzte Grund von al-lem ist grundlos und unterschiedslos. Weil es aber in dieser Abgründigkeit Grund und Anfang von allem ist, was durch sein Wirken an sich seiend geworden, so verhält es sich zu dem Uni-versum gleichsam wie ein Ahnherr, der als Ursprung und Stifter eines Geschlechts verehrt wird.

Die Verse beziehen sich auf Tao (auf den Tao-Habenden, s. Kap. 56). »Es bricht seine Schär-fe« oder Spitze; damit wird das Durchdringende seines Wesens, seine herbe Unwiderstehlich-keit anerkannt, die alles Widerstrebende gleichsam zu durchschneiden, zu durchbohren ver-mag, aber auch erkannt, daß es seine Schärfe (die das Alte Testament als verzehrendes Feuer bezeichnet) an seinen Wesen abbricht, sie an ihnen und vor ihnen umbiegen läßt. Aber es hält sich nicht nur zurück derart, um nicht zu schaden, es teilt auch aus und »streut aus seine Fül-le«, behält seinen mannigfaltigen Reichtum nicht für sich, sondern teilt ihn aus an die Ge-schöpfe.

Wenn es sich ihnen so eröffnet in Dargeben und Mitteilen, so würden sie selbst in seiner Güte die strahlende Herrlichkeit seines Wesens nicht ertragen können; daher »macht es milde sein G1änzen«, sänftigt sein Licht, daß es sich ihnen wohltuend und harmonisch anpaßt und so sie zu sich heraufhebt, indem es sich zu ihnen herabläßt. Damit geht die Herablassung des Tao bis zum Äußersten, zur letzten Synthese mit dem Seienden. »Er wird eins, wird gleich, identi-fiziert sich seinem Staube«, dem, was das Geringste, Niedrigste, Flüchtigste ist, dem Vergänglichen und Verächtlichen, in welchem Sinn man diese Welt und ihre Geschöpfe auch Staub nennt.

Es macht sich gleich seinem Staube – und das bei der tiefsten Stille, als ob es in herausgesetz-ter Wirklichkeit dabei wäre. Dies ist kein Widerspruch. Tao bleibt verborgen in seiner Stille und ohne Bewegung, und doch wirkt es so, »gleich, als ob « es von einem wahrnehmbar Wirklichen ausginge.

Lao-Tse sagt: er kenne nichts, was Tao voraus gehen oder vorausgegangen sein könne. Es gibt nichts Älteres und Ursprünglicheres vor Tao. Es, der Grund von allem, hat nicht wieder einen Grund. So zeigt es sich als (oder ist es der Form nach) der Vorfahr oder Vorgänger des HERRN, des Schang-Ti, der Frühere und Ältere. Vor dem Werden der Welt ist nur der abso-lute Grund als das unaussprechliche Wesen, und dies muß erst als das aussprechliche Tao alle Dinge in ihr Sein hinausführen, damit nun die Gottheit auch Herr und Herrscher (Ti) über die Weh sein könne.

Es ließe sich auch denken, daß Lao-Tse mit diesen letzten Worten auf den geschichtlichen Vorgang anspielen wollte, wonach die Bezeichnung des höchsten Wesens im alten Volks-glauben auf Schang-Ti (oberster Herrscher) oder Thien (Himmel) übergegangen war.
 
 

 
 


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