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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 9


 
 


Ergreifen und zugleich vollgießen,
das unterbleibt besser.

Betasten und zugleich schärfen,
das kann nicht lange währen.

Füllt Gold und Edelstein eine Halle,
vermag es keiner zu schützen.

Reich, geehrt und zugleich hochmütig,
beschert sich selbst sein Unglück.

Ist Verdienstliches vollendet
und Ruhm erlangt —
dann sich selbst zurückziehen,
ist des Himmels Weg.
 



 

Wer mit jener Selbstlosigkeit, welche das 7. Kapitel pries, seine hohe Güte so bewährt, wie sie das 8. Kapitel schilderte, der kann und wird Großes vollenden, Ruhm erlangen, und wie er sich dabei zu verhalten hat, sagt dieses Kapitel. - «Ergreifen und vollgießen» bezieht sich auf ein Gefäß. Es ist nun unvereinbar, ein solches (nach chinesischer Sitte mit beiden Händen) zu ergreifen und es gleichzeitig anzufüllen; daher ist es besser, das zu  unterlassen, d. h. es ist unvereinbar, den Lohn genießen zu wollen (ergreifen) für das, was man tut, und eben dieses zugleich zu tun (vollgießen); darum soll man jenes unterlassen, ja auch dieses, wenn es nur um des Ergreifens, um des Lohngenusses willen geschieht.

Eine Klinge nach ihrer Schärfe «betasten» und sie zugleich «schleifen», das kann nicht lange durchgeführt werden, da eins das andere hindert. Unter «Zuschärfen» dürfte das verdienstvolle Wirken des höheren Menschen zu verstehen sein, und unter «Betasten» das Überprüfen, ob er sich Anerkennung und Ruhm dadurch erwerbe. Dabei hindert eins das andere; denn wahres Verdienst läßt die Prüfung seines Vorteils nicht aufkommen, und diese macht jenes zunichte.

Die erworbenen Schätze, sein Gutes, seine Weisheit, sein Verdienst, soll man vor den Menschen nicht öffentlich ausstellen, wenn man ihrer nicht verlustig gehen will. Unter «Halle» ist ein offenes, allen zugängliches Gebäude gemeint, und sofern «Gold und Edelsteine» den Schatz heiliger Erkenntnis und sittlicher Güter bezeichnen, hegt die Wahrheit darin, daß ihre öffentliche Preisgebung sie auch für uns entweiht und uns entfremdet. Was man auch Verdienstliches getan, es büßt seine Würde ein, sowie man es jedermann vorhält. Auch hier die Unvereinbarkeit der Bewahrung edlen Besitzes mit dessen Ausstellung vor aller Welt.

Die Veröffentlichung eigener Vorzüge, die hier als Reichtum und Ehre bezeichnet sind, werden auf Hochmut zurückgeführt; doch zieht der Hochmütige sein Unheil sich selbst zu. (Hochmut kommt vor dem Fall.) Damit hat jenes «Ergreifen während des Vollgießens», «Betasten während des Schärfens», das Ausstellen von «Gold und Edelstein in offener Halle» seine Wurzel in dem Gegenteil jener Selbstlosigkeit und Demut, von der das vorige Kapitel redete, in dem Hochmut, der zu seiner Strafe den Verlust alles dessen, worauf er sich stützen will, selbst herbeiführt.

«Des Himmels Weg», «Weg» (tao) bedeutet hier nicht Tao, sondern Weg, Gang, Methode, Verfahren; «Himmel» (Thien) ist hier, wie in den fünfzehn letzten Kapiteln, die höchste überirdische intelligente Macht im alten volksmäßigen Sinn, welche sich der Welt in ihren Segnungen und Wohltaten als wirkend erweist und dafür ge priesen wird, sich selbst dann aber in das Unwahrnehmbare zurückzieht. Darum heißt das ähnliche Verfahren des Weisen des Himmels Weg, den auch er einschlägt. Denn da er das Edle und Gute nicht um des Verdienstes oder des Ruhmes willen tut, indem es dadurch, daß er Tao hat, einfältig aus seinem Wesen hervorgeht, so hat er mit Vollendung und Erlangung desselben seine Aufgabe erfüllt und zieht sich dann von der Welt zurück. Er tat es nicht um seiner Person willen und lässt darum nun seine Person abtreten.
 
 

 

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