[Home]  [Einleitung]  [Lao Tse]  [1. Buch ]  [2. Buch ]


Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 11


 
 


Dreißig Speichen treffen auf eine Nabe:
Gemäß ihrem Nicht-sein ist des Wagens
Gebrauch.

Man erweicht Ton, um ein Gefäß zu machen:
Gemäß seinem Nicht-sein ist des Gefäßes
Gebrauch.

Man bricht Tür und Fenster aus, um ein Haus zu
machen:

Gemäß ihrem Nicht-sein ist des Hauses
Gebrauch.

Darum: Das Sein bewirkt den Nutzen,
Das Nicht-sein bewirkt den Gebrauch.
 
 



 

Es kommt Lao-Tse darauf an, das bloße Sein zu negieren, in welches das Bewußtsein versetzt und verschlungen ist, und durch diese Negation das, was ist, von dem, was es ist, abzusondern und zu befreien. Dadurch wird das, was die Erkenntnis zuhöchst sucht, von dem befreit, worin es nicht als das Höchste und Erste erkannt werden kann, andererseits aber auch das Bewußtsein befreit von der Täuschung, jenes, das Wesen, das Was in dem Sein zu finden. Nur in dieser Freiheit vom Sein kann das Bewußtsein sich im seinsfreien Absoluten erkennen und dieses dadurch als solches erschauen, worin die eine höchste Erfahrung von ewiger Bedeutung besteht. Im praktischen Verhalten ist dann von durchgreifender Wichtigkeit, nicht das Sein dahin zu drängen, wo nur das Wesen als solches, d. h. als nicht im Sein, als nicht-seiend walten soll. Die allgemeine Bedeutung des Nichtseins eines Wesentlichen, in welchem dieses Nicht überhaupt nicht ist, sondern nur nicht seiend ist, als Wesen aber bleibt, sucht Lao-Tse durch Gleichnisse zu erläutern.

Die dreißig Radspeichen - soviel hatten im Altertum die Räder nach Zahl der Monatstage - laufen nach einem Punkt zusammen; allein, an der hohlen Nabe (im Loch, im leeren Raum) hören sie auf, hier tritt ihr Nichtsein ein, und nur gemäß ihrem Nicht-Sein, insofern sie dort nicht sind, wohl aber ihr Wesen auch bis dahinein erstrecken - denn zum Wesen der Speichen gehört ihr Nicht-sein in der Nabe -, insofern ist der Wagen zu gebrauchen, dessen Gebrauch also gerade auf ihrem Nicht-Sein beruht. So ist auch ein Gefäß nur insofern brauchbar, als in seinem Innern sein Stoff, der das Gefäß ist, nicht ist. Dieses Nicht, ohne welches es nur ein Tonklumpen wäre, macht es erst zum Gefäß und ist daher sein eigentliches Wesen. Ein Haus besteht aus Dach und Wänden; Türen und Fenster sind ein Nichtsein der letzteren; allein, ohne dieses Nicht-Sein könnte das Haus weder Menschen noch Licht einlassen; durch dasselbe erst wird es brauchbar. Der allgemeine Gedanke ist also, daß diese Dinge nicht durch ihr Sein (Ich), sondern durch ihr Nicht-Sein (Nicht) ihrer Bestimmung entsprechen. Das Sein entspricht hier der Materie, der Quantität, das Nichtsin der Form, der Qualität. Dies sagt: «das Sein bewirkt den Nutzen», d.h. ein Wesentliches nützt uns nur, wir werden seiner nur habhft dadurch, dass es ist, seiend ist (durch die Masse); aber es ist für uns das, was es ist, wir können damit nur etwas anfangen, sofern es nicht ist: «Das nicht-Sein bewirkt den Gebrauch», die Brauchbarkeit (durch die Form, Funktion).
 

 

[Home]  [Einleitung]  [Lao Tse]  [1. Buch ]  [2. Buch



© baraka