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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 19


 
 


Laßt fahren die Heiligkeit, gebt auf die Klugheit!,
und des Volkes Wohl wird sich verhundertfachen.

Laßt fahren die Menschenliebe, gebt auf
die Gerechtigkeit!, und das Volk wird zurückkehren
zu Kindespflicht und Elternliebe.

Laßt fahren die Geschicktheit, gebt auf den Gewinn!,
und Diebe und Räuber wird es nicht geben.

In diesen Drei -
«Nimmt man den Schein nicht als genügend an,
Drum soll man haben, dran man halten kann;
Man zeige Lauterkeit, ziehe Einfalt an,
Sein Eignes mindre, wenig wünsche man.»
 
 



 

Der unverkennbare Zusammenhang mit dem vorangehenden kann allein zum Verständnis dieses Kapitels führen, welches voll Paradoxie und Ironie ist. Des Volkes Wohl, Sittlichkeit und Sicherheit wird von der Verwerfung höchster Tugenden abhängig gemacht, von deren Betätigung man dies allgemein erwartet? Und doch ist es vergleichsweise evangelischer Boden, wo auch die einfältige  Torheit (s. Kap. 20) den Preis erhält vor der Weisheit und Klugheit dieser Welt. Denn keine anderen Tugenden sind hier gemeint als die, welche und sofern sie als solche erst hervortreten und gefördert werden, wenn man von Tao abgefallen ist.

Die Worte gelten vornehmlich den Regierenden. Ihre «Heiligkeit», ihre höchste Weisheit (was die von Tao Abgefallenen so nennen) und Klugheit sollen sie aufgeben, worin sie durch selbstersonnene Einrichtungen und Gesetze die Wohlfahrt (Gewinn. Vorteil, Glück) des Volkes zu fördern suchen; sie bewirken nur das Gegenteil damit, und das Volk verarmt und verkommt (Kap. 57, 58); aber es wird wieder aufblühen, wenn diese Hindernisse weggeräumt werden; denn dann wird die höchste Weisheit und Klugheit, die aus Tao stammt, ihren Segen verbreiten. So auch das Sittengesetz, das für die Regierenden durch Menschenliebe und Gerechtigkeit, für die Regierten durch Kindespflicht und Elternliebe bezeichnet wird. »Gebt es auf, aus Menschlichkeit und Gerechtigkeit kindliche und elterliche Liebe zu gebieten, aus Sittengesetzlichkeit das Sittengesetz zu befehlen; dann erst können die entsprechenden Tugenden in ihrer Wahrheit wieder aufleben«. Wie Paulus, so will Lao-Tse das Gesetz nicht aufheben, sondern aufrichten, aber nicht als Gesetz, sondern durch die Erfüllung ohne Gesetz. - Ihr habt Geschick und Gewinn davon; aber ihr mißbraucht es und macht euch betrügerische Vorteile; darum reizen beide, sowohl eure gehäuften Reichtümer als auch die unredliche Art des Erwerbs, die Menschen, Diebe und Räuber zu werden.

Lao-Tse verwirft nicht Weisheit, Sittlichkeit und Geschicklichkeit an sich, sondern nur sofern sie durch Abfall von Tao kernlos und zu bloßem Schein geworden sind. Ungenügender Schein (w.: Literatur, Schrift, äußerer Schmuck) ist es, wenn man Tao verlassen; darum ist geboten, zu haben, was vorhält. Was genügt, was vorhält, ist Tao, dessen «Haben» dann möglich macht, die aufgeführten Tugenden wahrhaft zu besitzen.
 
 


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