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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 20


 
 


Wer das Lernen aufgibt, hat keinen Kummer.
«Ja» und «Jawohl», wie wenig unterscheiden sie sich!
Gut und Böse, wie sehr unterscheiden sie sich!
Was die Menschen fürchten, kann man nicht nicht-fürchten.

Die Verfinsterung, o daß sie noch nicht aufhört!

Die Menschen strahlen vor Lust,
wie bei der Feier großer Feste,
wie bei Ersteigen von Anhöhen im Frühling:

Ich allein liege still, noch ohne Anzeichen,
wie ein Kindlein, das noch nicht lächelt.
Ich lasse mich treiben wie einer ohne Heimstätte.
Die Menschen haben alle Überfluß:
Ich allein bin wie ausgeleert.
Oh, ich habe eines Toren Herz!,
ich bin so verwirrt!

Die gewöhnlichen Menschen sind sehr erleuchtet:
Ich allein bin wie verfinstert.

Die gewöhnlichen Menschen sind sehr geläutert:
Ich allein bin ganz trübe.

Flutend wie das Meer, umhergetrieben ohne
Aufenthalt.

Die Menschen sind alle brauchbar.
Ich allein bin schwerfällig und ungeschickt.
Ich allein bin anders als die Menschen,
aber ich ehre die nährende Mutter.
 
 
 
 



 

Lauterkeit, Einfalt, Abgelöstheit von der Welt, die der Schluß des vorigen Kapitels als Ziel aufstellte, lassen sich nicht anlernen, wohl aber Klugheitsregeln, Sittengesetze, Geschicklichkeiten. Aber dieses weltförmige und gesetzliche Lernen ist ein unseliges. Es ist das Tun derer, «die immerdar lernen und nie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen können». Es läßt nicht die innere Ruhe und Gelassenheit, nicht das tiefe Selbstbesinnen aufkommen, welche allein zum höchsten Ziel führen. Gibt man es auf, ist man ohne Kummer.

Unser «Ja» und «Jawohl» entspricht ziemlich dem chinesischen; beides ist eine Antwort und heißt auch «antworten», ersteres zugleich «erwägen» und letzteres «beistimmen», wonach «Ja» die Antwort des Sohnes und «Jawohl» die der Tochter sein soll. Beider Bejahung liegt dicht beisammen und unterscheidet sich kaum, und doch, welch Gegensatz kann sich dahinter verbergen! Kein geringerer als der von Gut und Böse, von Hingebung an Tao und Weltförmigkeit.

Was alle anderen fürchten, das muß man gleichfalls (nicht nicht) fürchten. Was die Menschen fürchten, ist nun eben das, was sie von jenem beistimmenden «Jawohl», von der spontanen Entscheidung für das Gute zurückschreckt: das Brechen mit der Welt, die Selbstentäußerung; davor fürchten sie sich; das ist die Furcht aller, die auch den einzelnen mitreißt und kettet.

Verfinsterung (w.: Unkraut, Wildnis) ist wie eine Decke vor den Augen der Menschen, daß sie das Wahre nicht sehen, die richtige Entscheidung fürchten und die Verehrer Taos falsch beurteilen.

Als Lao-Tse nach der Überlieferung sein Buch schrieb, war er in der Lage eines Greises, der sich längst im tiefsten Gegensatz zu seiner Umgebung gesehen, unter deren abschätzigem Urteil eine ehrenvolle Stellung aufgegeben hat und nun einsam und ohne bestimmtes Ziel in die Welt hinauswandert, um einen stillen Ruheplatz zu suchen, wo er seine Tage beschließen könne. Äußerlich gesehen, kann er denen, die ihn verachten und verhöhnen, beinahe recht geben. Man wird abermals an Paulus erinnert, wenn auch er (I. Kor. I) von der Torheit und dem Ärgernis seiner Predigt spricht und sagt, daß eben das auserwählt sei, was vor der Welt töricht, schwach, unedel, ja nichts sei.

«Feier großer Feste» heißt eigentlich «einen großen Stier opfern» und deutet auf die festlich-fröhliche Stimmung beim Genuß der Opfermahlzeit wie auch auf die vornehme Stellung des Opfernden, da nur ein zur höchsten Rangklasse Gehörender ein Stieropfer bringen durfte. In ähnlicher froher Stimmung ersteigt man im Frühling eine Anhöhe, einen Berg oder eine Terrasse mit schöner Aussicht, um an dieser die Augen zu weiden. Beide Gleichnisse wollen die sorglos genießende Fröhlichkeit zeichnen.

«Anzeichen» deutet auf das Weissagen aus den Sprüngen einer über dem Feuer gerösteten Schildkrötenschale hin, welches in China von alters her in hohem Ansehen stand; es ist also noch nicht die geringste Andeutung von Fröhlichkeit und Lebensgenuß vorhanden. Während jene Leute in ihrer Weltlust ihre bestimmten Ziele haben, scheint Lao-Tse ihnen ziellos dahinzutreiben. Er gibt dies gleichsam zu, doch nicht ohne leise anzudeuten, daß er eben im Irdischen und Weltlichen nicht einkehren könne, keine Heimat habe. Den Leuten mangelt nichts für ihre Genüsse, weder Reichtum, um verschwenden, noch Schlauheit, um betrügen zu können, und so scheint er ihnen nur ein törichter Mensch, der alles verloren und hinter sich zurückgelassen hat und allein und einsam, stumpfsinnig und verwirrt dem gegenübersteht, was sie alle für den Zweck und das Glück des Lebens ansehen. Sie sind alle voll Klarheit und Sicherheit des Urteils, voll Helligkeit und Licht, wogegen er ihnen ein Finsterling scheint, der nicht verstehen kann und will. Sie sind alle so rein, heiter, durchsichtig, und wie traurig, wie trübselig muß er ihnen erscheinen, der alles so sorglich, ernst und schwer nimmt. Ist er nicht, zumal er alles hinter sich gelassen und dahintreibt, hin und her flutend wie das Meer, von Wind und Wogen getrieben ohne Stillstand? Dies alles räumt er nach äußerer Erscheinung hin ein, wie mit einem bitteren Lächeln über die Weltbefangenheit seiner Beurteiler.

Daß die seichten, aufgeklärten, durchsichtigen Weltmenschen die Geschäfte in ihrem Weltelement leicht und sicher handhaben, ist ebenso bekannt wie die beschränkte Geringschätzung, mit der sie auf jene tiefen Geister herabsehen, welche in ihrer erhabenen Einfalt und fremd jenem Element sich meist schwerfällig und ungeschickt, tölpisch wie ein Bauer in ihm bewegen, ja unfähig und unbrauchbar in ihm erscheinen. Auch dies gesteht ihnen Lao-Tse in diesem Sinn gewissermaßen zu.

Nun wendet sich die Ironie, die das bisher Gesagte überschwebte, in den Ernst des Geständnisses, daß ihn aber ein durchgreifender Unterschied von den übrigen Menschen trenne: er ehrt die «Nährende Mutter», die jene nicht ehren. Sie sind Weltmenschen, er ist Tao-Mensch. Denn die nährende Mutter ist eine Bezeichnung des Tao, das alle Wesen umfaßt, in seinem Schoß trägt und sie aus sich speist und erhält. Hier weist er auf die Torheit und Verblendung der anderen Menschen hin, welche Tao, die nährende Mutter, die sie ins Dasein gebracht, durch sie erhalten werden und bestehen, nicht kennen wollen und nicht verehren.
 
 
 


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