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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 28



Wer seine Mannheit kennt,
an seiner Weibheit hält,
Der ist das Strombett aller Welt.

Ist er das Strombett aller Welt,
Die stete Tugend nicht entfällt,
Und wieder kehrt er ein zur ersten Kindheit.

Wer seine Helle kennt,
sich in sein Dunkel hüllt,
Ist aller Welt ein Musterbild.

Ist er der Welt ein Musterbild,
Die stete Tugend bleibt sein Schild,
Und wieder kehrt er ein ins Unbefangene.

Wer seine Hoheit kennt und hält Erniedrigung,
Ist aller Welt Tal-Niederung.
Ist er der Welt Tal-Niederung,
Dann steter Tugend ist's genug,
Und wieder kehrt er ein zur ersten Einfalt.

Wird die Einfalt zerstört, dann wird sie Brauchbares.
Wendet der heilige Mensch sie an, dann wird er der Beamten Herr.
Denn große Herrschaft verletzt nicht.
 
 



 
 

Hier erfahren wir, weshalb der Heilige für die öffentlichen und Reichsämter der Geeignetste ist; denn von ihm reden die drei Strophen. Was der erste Vers unter Männlichkeit und Weiblichkeit versteht, erläutert Kapitel 61, wo es heißt:
 

«Ein großes Land sei des Reiches Weib;
das Weib überwindet immer mit Ruhe den Mann:
mit Ruhe ist es Untertan.»


So haben wir auch hier die Weiblichkeit als ruhige Herablassung und dienende Hingebung zu fassen, dem gegenüber die Männlichkeit das herrscherliche Ansehen wäre; es ist also von dem die Rede, der gebietende Autorität besitzt und sich deren bewußt ist, gleichwohl aber daran festhält (es bewahrt), allhilfreich jedermann Untertan zu sein. Dies setzt voraus, daß die Seele eine Androgyne ist, welche die beiden in ihr verknüpften Prinzipe (Yin, Yang) harmonisch entwickelt hat und betätigt. Wer sich nun so erweist, «der ist aller Welt Strombett», alles strömt bei ihm und um seinetwillen zusammen, ordnet und richtet sich nach ihm und erkennt seine Autorität an. (Vgl. Kap. 66.)

Wer dergestalt «aller Welt Strombett» geworden, bei aller Welt unwiderstehlichen Einfluß gewonnen, den wird auch, weil dies auf jenem Verhalten beruht, die stete Tugend (die beständige, unveränderliche) nicht verlassen; und da er vermöge ihrer immer das Rechte trifft und tut, ohne zu wählen und zu überlegen, so «kehrt er wieder um in erste Kindheit», ist wie ein ebengeborenes Kindlein (siehe Kapitel 10, 55) und kann ohne Furcht und Begierde in ruhiger Unschuld die harmonische Fülle seines Wesens leben, den Zweck seines Daseins erreichen.

Das Helle, Weiße, Leuchtende entspricht Yang, das Dunkle, Schwarze, Unscheinbare dem Yin. Wer sich bewußt ist, daß er hervorleuchtet, und doch seine Dunkelheit, seine tiefe Unscheinbarkeit bewahrt, wer also hohe Vorzüge besitzt und sie nicht zeigt, dessen Erscheinung macht den stärksten Eindruck und regt am meisten zur Nachfolge an; darum ist er «aller Welt Musterbild», und jeder richtet sich nach ihm.

«Schild» des Reimes wegen, heißt wörtlich: «Die beharrliche Tugend irrt nicht», geht nicht fehl, sie erreicht das Ziel, und daher kehrt der, welcher glänzende Vorzüge unter unscheinbarem Äußern tiefinnerlich birgt, wieder zurück zum Nicht-Anfang, wörtlich: «Nicht haben Gipfel, Höchstes», womit das Un-Endliche, das namenlose Tao, gemeint ist, also der Zustand des «Noch nicht geborenen», in dem Yin und Yang sich noch nicht getrennt nach außen zeigen. Es kann aber auch einfach ein Zustand gemeint sein, in welchem es für ihn kein Äußerstes, kein Ziel gibt, er also kein Streben und Trachten kennt, und so absichtslos und unbefangen ist, demnach die Unbefangenheit der Kindheit (gewissermaßen der Vorkindheit) erreicht.

«Hoheit» steht für «Herrlichkeit, Ehre, Ruhm, hoher Rang». Wer sich geehrt und ehrenwert weiß und dabei seine Geringschätzung bewahrt, sich erniedrigt und demütigt, dem eilen alle zu, wie die Gewässer dem Tal, weshalb er aller Welt Talgrund genannt wird. Ist er das geworden, so erweist sich seine Tugend als genügend und ausreichend für seine Bestimmung. Und nun kehrt er wieder zurück ins «Rohholz», in den Zustand ursprünglicher, natürlicher Einfalt (siehe Kapitel 15, 19). Das Wort wird ebenso oft in übertragener wie eigentlicher Bedeutung gebraucht, und die nachfolgende Wendung knüpft an diesen Doppelsinn. Wer also in aller Welt ausgezeichnet ist und sich dessen dennoch entschlägt, wird allgemeine Autorität werden, und wird er dies, so bewährt sich darin sein Können und Wollen des Guten, seine Tugend; dann kann er kindlich, absichtslos (verborgen) und natürlich, einfach, leben.

«Rohholz wird zerteilt (zerstört), und dann wird es Werkzeug» ist doppelsinnig und heißt ebenso auch: «Die Einfalt wird zerstört (vernichtet), und dann wird sie Brauchbares»; denn «Werkzeug, Gerät, Gefäß bedeutet auch überhaupt etwas Brauchbares und wird häufig von Menschen, besonders als Beamte, in diesem Sinn  gesagt. Der Sinn, wobei Bild und Anwendung zusammenfallen, ist also, des Menschen ursprüngliche Einfalt und Natürlichkeit wird erst zerstört und künstlich zugerichtet, damit er zu bestimmtem Zweck im Staat ein brauchbares Werkzeug wird. Der Heilige aber wendet seine einfache Natürlichkeit an, so daß er in großem Sinn regiert und niemand bedrückt; dann wird er hierdurch der Beamten Herr, nicht durch das Erlernte, Angeeignete, sondern durch geniale Ursprünglichkeit, die bei aller Milde, Anspruchslosigkeit und Demut die Menschen beherrscht und sie von selbst über die Minderbegabten emporhebt.
 
 

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