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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 34




Das große Tao ist überströmend,
es kann links sein und rechts.
Alle Wesen verlassen sich auf es,
um zu leben, und es versagt nicht.

Ist Verdienstliches vollendet,
nennt es dies nicht sein.
Es liebt und nährt alle Wesen
und macht sich nicht Herr.

Ewig ohne Verlangen,
so kann es klein genannt werden.
Alle Wesen kehren sich (zu ihm),
und es macht sich nicht Herr,
so kann es groß genannt werden.

Daher:
Der heilige Mensch macht sich nie groß,
darum kann er seine Größe vollenden.
 
 
 



 

Im Anschluß an Kap. 32 wird hier das Absolute nicht mehr in seiner ersten Ureinfachheit betrachtet, sondern Tao als das Namen-Habende in seiner lebendigen Beziehung zu der Kreatur; auch so kommt ihm das Beiwort «groß» in absolutem Sinn zu. «Überströmend» heißt «fluten, schwimmen, schweben» und deutet in Zusammenhang mit «groß» auf seine grenzenlose Ausbreitung und quellende Lebensbewegung. «Es kann links und rechts sein» bedeutet, daß es überall zugleich sei,  aber auch, daß es zur Seite steht, beisteht und hilft;  demnach: Es ist überall mit dem Vermögen seiner hilfreichen Machterweisung.

In Tao sind vor ihrer Verselbständigung die Urbilder der Wesen (Kapitel 21), und es sieht sie als solche, die von ihm die Setzung in ein eigenes Sein erwarten, sich darin auf es verlassen, um zu entstehen und zu leben. «Und es versagt nicht», verweigert nicht, d.h. es versagt sich ihnen nicht und verfehlt nicht, ihnen Leben zu geben. «Verdienstliches», hier besser als Werk, Handlung zu nehmen, da es nicht von Menschen, sondern von Tao gesagt ist; ist sein Werk, den Menschen Leben zu geben, dann vollendet es dies auch und bringt sie zur vollen Entfaltung.

Dennoch eignet es sich dies Werk nicht zu und nennt es nicht «Haben», d.h. sein.
Lao-Tse erkennt hier Tao ausdrücklich Liebe zu allen Geschöpfen zu, das mitleidende und sich mitfreuende, das wohltuende und sich erbarmende Lieben. Obgleich Tao alle Wesen erschafft, vollendet, liebt und versorgt, so stellt es sich doch nicht in das Verhältnis eines Herrn und Gebieters, «macht nicht den Herrn» oder macht sich nicht zum Herrn. Seine Liebe ist selbstlos und bedürfnislos. Derart nichts für sich fordernd und selbst stets zurücktretend, scheint es jedem Maß der Betrachtung zu entschwinden, so daß es «klein», gering, wenigbedeutend genannt werden kann. Zu ihm kehren sich alle Wesen hin («alles Fleisch kommt zu dir»), und da sie alles, was sie sind und haben, seiner Güte verdanken, ehren und preisen sie es (Kapitel 51); trotzdem macht es sich nicht zu ihrem Herrn und Gebieter, und so das an allen alles tut aus reiner, bedürfnisloser Liebe, ohne dafür ewig etwas zu verlangen, mit wie großem Recht kann es «groß» genannt werden!

Da des heiligen Menschen Wesen darin besteht, Tao nachzufolgen und dessen Abbild und Gleichnis zu sein, «macht er nicht den Großen», macht sich nicht groß, will nicht groß sein. Er will immer in dem Sinn klein sein, wie dies von Tao auszusagen ist; denn das macht ihm möglich, zu vollenden, auszuführen, was ihn groß macht, in gleichem Sinn wie dies von Tao ausgesagt ist, d.i. in sittlicher Größe.

 

 

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