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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 36




Was sich einziehen will,
hatte sich sicherlich ausgedehnt.

Was schwach werden will,
war sicherlich stark geworden.

Was fallen will,
war sicherlich aufgestiegen.

Was sich nehmen will,
hatte sich sicherlich gegeben.

Das heißt:
Verborgenes wird klar.

Weich und Schwach überwindet
Hart und Stark.

Der Fisch darf die Wassertiefe nicht verlassen.
Des Landes scharfes Gerät darf man
den Menschen nicht zeigen.
 
 
 



 

In der praktischen Entwicklung seines Prinzips hatte Lao-Tse sich gegen die Anwendung von Waffengewalt und Zwang in der Regierung des Reichs erklärt (Kapitel 30, 31) und gezeigt, wie ohne dieselben die Regierenden Ansehen und Gehorsam finden würden, wenn sie sich an Tao hielten (Kapitel 32), zuvor sich selbst veredelten und vollendeten (Kapitel 33) und dann Tao nachfolgten in selbstloser Liebe und Wohl-tun (Kapitel 34). Obwohl dies unfehlbar zum Heil aller sein würde, so will jedoch niemand darauf eingehen; niemand habe Sinn dafür (Kapitel 35). Daher lehrt er nun, wie gerade Milde und Sanftmut am sichersten allen Widerstand überwinden.

Er weist auf die Erfahrung hin, daß jeder Abnahme das Vorhandensein und deshalb die Gegenwirkung des Abnehmenden vorausgehe, daß dessen Widerstand aber ersichtlich nichts fruchte.

Darin offenbare sich eine geheime Macht, welche jenen Widerstand überwinde, nicht aber durch Gewalt und  Zwang, sondern gerade durch deren Gegenteil. Da man dieser Wirkung gewiß sein könne, soll man danach auch in der Regierung des Reichs verfahren.

Die Dinge sind in dem Zustand gedacht, wo  die Abnahme an Ausdehnung, Kraft, Höhe und  Gaben soeben eingetreten ist, um nun stetig fortzuschreiten. Der Beobachtende sieht also nur, wie sie abnehmen. Daraus wird ihm aber klar, was er nicht sieht, was ihm «verborgen» ist, nämlich nicht nur, daß sie vorher in denselben Beziehungen zugenommen haben müssen, sondern auch daß der ferneren Zunahme sich etwas entgegengestellt habe, was nun fort und fort auch die weitere Abnahme bewirkt, obwohl es weder plötzlich noch gewaltsam eingreift und auf die sanfteste und gelindeste Weise verfährt. So wird Verborgenes klar.

Weich, schwach entspricht Yin; hart, stark entspricht Yang (s. a. Kapitel 42, 76, 78). Alles kann nur seiner eigenen Natur gemäß wirken. Nachgiebig machen kann nur das Nachgiebige, schwächen nur das Schwache. Sehen wir daher das Starke schwach, das Harte weich werden, so kann das Wirkende, das die Härte und Stärke überwindet, selbst nur ein Weiches und Schwaches sein. Das weiche, nachgiebige Wasser ist das Lebenselement des Fisches. Bleibt er in ihm, so ist er wohlbehalten und geschützt; gerät er aber auf das feste, harte Land, so ist es um ihn geschehen. So ist das ethische Element des Menschen, vor allem des regierenden, jene Weichheit und Schwäche, welche in der überwundenen Härte und Stärke besteht. Auch um ihn ist es bald geschehen, wenn er dies Element (der Milde) verläßt.

Durch diese edle Weichheit (nicht etwa Weichlichkeit!) und Schwäche wird er den Widerstand gegnerischer Kräfte allmählich verzehren. Wenn er den Menschen aber «das scharfe Gerät des Landes» zeigt, d. h. mit Waffendrohung und Waffengewalt vorschreitet oder im Einzelfall die Anwendung des Foltergeräts androht, so macht er sich die Gemüter abwendig, reizt sie auf, Gewalt mit Gewalt zu begegnen, und bereitet sich seinen eigenen Untergang.
 
 

 

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