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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 38

Hohe Tugend (tut) keine Tugend,
daher ist sie Tugend.
Niedere Tugend (tut) unfehlbar Tugend,
daher ist sie nicht Tugend.
Hohe Tugend (tut) Nicht-Tun,
und es ist ihr nicht ums Tun.

Niedere Tugend tut,
und es ist ihr ums Tun.

Hohe Menschenliebe tut,
und es ist ihr nicht ums Tun.
Hohe Gerechtigkeit tut,
und es ist ihr ums Tun.
Hohe Sittlichkeit tut,
und entspricht ihr keiner,
dann streckt sie den Arm aus und erzwingt es.

Darum:
Verliert man Tao, (hat man)
danach Tugend.
Verliert man die Tugend, (hat man)
danach Menschenliebe.
Verliert man die Menschenliebe, (hat man)
danach Gerechtigkeit.
Verliert man die Gerechtigkeit, (hat man)
danach Sittlichkeit.

Diese Sittlichkeit ist der Treue und Aufrichtigkeit Außenseite
und der Verwirrung Beginn.

Äußerliches Wissen ist Taos Blüte
und der Unwissenheit Anfang.

Daher: Ein großer Mann bleibt bei seinem Inhalt
und weilt nicht bei seiner Außenseite,
bleibt bei seiner Frucht
und weilt nicht bei seiner Blüte.

Darum läßt er jenes und ergreift dieses.
 
 
 
 
 
 

Schon im ersten Buch zeigt Lao Tse verschiedentlich, wie aus seinem metaphysischen Prinzip die Hauptgrundsätze seiner Ethik und Politik hervorgingen. Während er nun vornehmlich die  Ethik behandelt, geht er dennoch immer wieder auf das Prinzip zurück, um zu zeigen, wie fest sie auf diesem begründet sei. Nur das aus dem Tao-Haben, aus der Einheit mit Tao hervorgehende Ethos, ist ihm die rechte, wahre, die «hohe Tugend», nur dieses umfaßt ihm auch die, «hohe Menschenliebe, Gerechtigkeit und Sittlichkeit»; bei dem heiligen Menschen sind dieselben jedoch natürlich und untergeordnete Ausflüsse seines Prinzips. Werden aber Menschenliebe, Gerechtigkeit und Sittlichkeit selbst als Prinzipien hingestellt, wie es von Khung-Tse geschah, so droht eins nach dem anderen verloren zugehen. Es werden daher nun diese Begriffe einzeln als Prinzip nach ihrem Wert abgestuft und charakterisiert, dann gezeigt, wie sie, von ihrem höchsten Grund abgelöst, nacheinander heraustreten und nacheinander verschwinden ; wohl eine Polemik gegen Khung-Tse.

Nur bei der Tugend wird ein Unterschied zwischen hoher und niedriger gemacht; hohe Tugend folgt aus der Einheit mit Tao, niedere Tugend bewahrt nicht den wahren, höchsten Grund. Hohe Tugend ist, wie die Vergleichung von Kapitel 2, 10 mit Kapitel 34, 51 zeigt, in ihrem Tiefsten Tao-ähnlich und besteht daher nicht im Tun, sondern im Sein. Sie ist sich auch nicht Selbstzweck; denn dann wüßte und wollte sie sich selbst als Tugend. Nun heißt es wörtlich: «Hohe Tugend, keine Tugend» oder «Hohe Tugend tugendt nicht, tut nicht (zeigt nicht, weiß sich nicht, will sich nicht als) Tugend»; in diesem Sinn wäre das Verb zu ergänzen. Denn die hohe Tugend ist sich selbst keine Tugend, kennt und will sich nicht als solche, will sie nicht als solche tun und aufzeigen, sondern sie fließt spontan aus ihrem Innersten und ist wie die erste Kindes-Unschuld (Kapitel 55), ihrer selbst unbewußt, Ausstrahlung des Tao.

«Niedere Tugend» dagegen tut, zeigt, ist sich «unfehlbar», d. h. nicht sich verlierende, nicht abhanden kommende «Tugend». Sie will sich als Tugend, ist sich ihrer als Tugend bewußt und tut bewußt und mit Absicht, daher «ist sie nicht Tugend» (hat nicht Tugend). Die Kürze und paradoxe Form soll das Nachdenken anreizen.

Weil die Tugend im Sein, nicht im Tun besteht, so ist auch die hohe Tugend ohne Tun, wörtlich: «hohe Tugend hat nicht Tun», ist Nicht-Tun, tut das Nicht-Tun (vgl. Kapitel 37 a.A., wo gleiches von Tao gesagt wird). D.h. der Hochtugendliche tut spontan aus seinem Innersten, hilft so allen Wesen und erweist ihnen Liebe und Wohltat, er tut nicht mit Überlegung und Absicht, ist sich dessen nicht bewußt und tut, als täte er nicht, und tut nicht, als täte er, sein Tun ist ihm kein Tun, ist ihm Nicht-Tun. «Es ist ihr nicht ums Tun», wörtlich: «sie hat-nicht, um zu tun» (sie ist nicht durch Tun), d.h. sie legt keinen Wert darauf, sie will sich nicht als Tugend erweisen und nichts durch Tun erreichen, nicht einmal ihre Selbstbezeugung. Anders die niedrige Tugend. Sie sucht ihr Wesen nicht im Sein, sondern im Tun, und sie legt Wert darauf; ihr ist es ums Tun; denn sie will das Bewußtsein guter Werke haben und will anerkannt sein. Damit ist sie verworfen.

«Hohe Menschenliebe» verdient diesen Namen dadurch, daß sie zur Tat wird, daß sie «tut». Sie geht auf ihre Selbstbezeugung aus, sie wäre wertlos, wenn sie nur Gefühl und Wort bliebe. Aber indem sie sich handelnd bewährt, «ist es ihr nicht ums Tun», und sie verhält sich in dieser Hinsicht wie die hohe Tugend.

Wessen Lebensprinzip Tao oder auch nur jene hohe Tugend oder hohe Menschenliebe ist, der wird auch gerecht sein; seine Gerechtigkeit begleitet und umkleidet aber nur ein Höheres und Edleres und betätigt sich nicht um ihrer selbst willen. Gerechtigkeit dagegen als einziges, alleiniges Prinzip will und muß sich mit Bewußtsein betätigen, und es kommt ihr darauf an, daß sie es tut, sie hat es zur Absicht und legt Wert darauf.

Von niederer Menschenliebe und niederer Gerechtigkeit sprich Lao-Tse nicht; nach dem, was er bereits von der Tugend gesagt, würden sie keine Menschenliebe, keine Gerechtigkeit sein; er überläßt es dem Nachdenken, beide durch die Gegensätze seiner Aussagen zu charakterisieren.

«Sittlichkeit» entspricht nicht vollkommen dem chinesischen Wort «li». Es bedeutete ursprünglich Ritual, Gottes- oder Geisterdienst, dann Sitte, Ehrfurcht, Schicklichkeit, Höflichkeit und umfaßt somit alle Bräuche äußerlichen Anstands, vorgeschriebener Zeremonien und Sitten, welche in China von alters her in hohem Ansehen gestanden. Wo äußerliche Sittlichkeit und Höflichkeit das Höchste ist, da wird sie nicht nur völlig zum Tun und Erweisen, sondern sie verlangt auch Erwiderung; denn nur dabei kann sie sich behaupten. Wird ihr diese versagt, so muß sie, um sich zu retten, mit sich selbst in Widerspruch treten und durch Drohung und Gewalt Erwiderung erzwingen. Sie allein ist, weil ganz äußerlich, auch erzwingbar.

Tao ist das Band aller Vollkommenheiten und ihr innerlicher Quellbrunn. Wer Tao hat, wer sich mit ihm in lebendiger Berührung erhält, hat sie alle. Wird aber Tao vergessen und verloren, so sterben sie allmählich in derselben Reihenfolge ab, in welcher es zu ihrem Wesen gehört, nicht im Tun aufzugehen und reine Gesinnung zu sein. Die Veräußerlichung der Zivilisation bei Verlust des Ewigkeitsbewußtseins ist sittlich, psychologisch und geschichtlich folgerichtig.

«Diese Sittlichkeit», die übrigbleibt, wenn alle die anderen höheren Tugenden geschwunden sind, ist nur ein dünner Überzug von Treu und Glauben, die sie schmückende Außenseite, ihre Form, die dann auch ohne Inhalt sein, zur Heuchelei werden und damit jede Zuchtlosigkeit überhüllen und erwachsen lassen kann. Ja, weil ohne den Inhalt jener Tugenden, ist sie selbst schon der Verwirrung, Unbotmäßigkeit, der staatlichen Wirren, der Empörung und Anarchie «Kopf» oder Anfang. Das «äußerliche Wissen» ist die Formkenntnis, die Kenntnis des Sittenkodex, der eben äußerliche Rite, Schicklichkeit und Würde festlegt. Da diese als der letzte Schmuck, als die Blüte sicherlich vorhanden ist, wenn das ganze Leben in Tao wurzelt, so wird diese Außen-Kenntnis «Taos Blüte» genannt. Getrennt aber von diesem Wurzelboden und ohne Innerlichkeit, entwickelt sich unter der Kenntnis der bloßen äußerlichen Umgangsformen von selbst Unwissenheit und Herzensroheit.

«Ein großer Mann», ein wahrer Weiser hält bei sich selbst vor allem auf Inhalt, auf Frucht, auf Treu und Glauben, auf Tao und bleibt nicht stehen bei der Außenseite, bei der Blüte; aus der leeren Form äußerer Würde und Artigkeit macht er sich nichts.

Betr. «jenes» (Außenseite, Blüte) und «dieses» (Inhalt, Frucht) vergleiche den Kommentar zu Kapitel 12.
 
 
 

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