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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 42



Tao erzeugt Eins,
Eins erzeugt Zwei,
Zwei erzeugt Drei,
Drei erzeugt alle Wesen.

Alle Wesen tragen das ruhende Yin
und umfassen das bewegende Yang.
Der vermittelnde Lebensodem
bewirkt die harmonische Vereinigung.

Was die Menschen hassen, das ist:
Verwaiste, Wenigkeiten, Unwürdige zu sein,
und doch Fürsten und Könige machen es
zu ihrer Bezeichnung.

Denn ein Wesen

«bald nimmt es ab und nimmt doch zu,
bald nimmt es zu und nimmt doch ab.»

Was andere lehren, das lehre ich auch.

«Gewalttätige, Halsstarrige erreichen nicht
ihren natürlichen Tod.»

Ich will daraus eine Lehre ableiten.
 
 

 



 

Das Kapitel scheint in zwei zusammenhängende Stücke auseinander zufallen; doch wird sich zeigen, daß dem nicht so ist. Zunächst bedarf es der Feststellung einiger Begriffe. Was der Text durch das «Ruhende», das «Bewegende» und den «Lebensodem», die Naturseele, wiedergibt, sind die drei berühmten Begriffe Yin, Yang und Ki, welche die ganze spätere Naturphilosophie der Chinesen beherrschen und längst ins allgemeine Bewußtsein übergegangen sind.

Yin heißt ursprünglich «dunkel», dann das Trübe und Schwere, in sich Verschlossene, und bezeichnet das weibliche Prinzip, das Empfangende, Untertänige, Irdische.

Yang ist «hell », dann das Reine und Leichte, das männliche Prinzip, das Zeugende, Herrschende, Himmlische.

Ki (vgl. Kap. 10, Anm.) ist Hauch, Atem, Lebensodem, Lebensseele als ein Physisches, allen Naturgebilden notwendig Innewohnendes.

Alles, was Kraftäußerung ist, das Positive, Licht und Wärme, Erregen, Bewegen und Zeugen, gehört dem Yang; dies tätige Prinzip müßte sich jedoch in sich verlieren, hätte es nicht ein Gegenstück seines Wirkens, das Negative, Schatten und Kälte, Stillen, Ruhen und Empfangen. Immer aber wird Yin als das an sich selbst Ruhende betrachtet, zu dem Yang hinzukommt, und beide treten durch den sie einigenden «Lebensodem» in Verbindung.

Alle drei Prinzipe gehören dem natürlichen Dasein an und lassen an das Verhältnis von Materie, Stoff, Energie und Kraft denken. «Alle Wesen tragen das Yin und umfassen das Yang», ist vielleicht besser zu übersetzen mit: Alle Wesen werden von dem ruhenden Yin getragen und von dem bewegenden Yang umfaßt.

Das Eins, sagt die herkömmliche Auslegung, ist Tao, sofern es das Nichtsein (WU Ki, Nichtanfang) in das Sein (Thai Ki, Uranfang) wandelt, die Zwei sind Yin und Yang, die Drei sind eben dieselben, durch den «Lebensodem» verbunden. Die drei Naturprinzipien sind demnach als innere Wesenheiten Taos anzusehen. Dazu wird bemerkt, daß schon im ersten Kapitel von einer Zweiheit in Tao die Rede war, welche dort «diese Beiden, diese Zwei» genannt wurde.

Das erste von ihnen war das ewig Namenlose, das zweite das Namen-Habende; beide zusammen heißen Tao. Dies ist die einzige Zweiheit im Wesen Taos. Da das benannte Tao, welches aller Wesen Mutter, das Nachfolgende und Zweite ist, so muß das Unaussprechbare vor ihm und somit das Erste und Alleinige sein. Und das Dritte? Kap.21 wußte von dem höchst wahren Geist Taos, der in Tao sei. Da eine solche Zugehörigkeit zu Tao mit gleich ewigen Attributen von nichts anderem ausgesagt wird, so dürfen wir vielleicht annehmen, daß dieser aus den Tiefen der Zweiheit ausgehende Geist das Dritte sei, welches, zu jener hinzutretend, sie nun zur Dreiheit vollendet, womit dann der innere Lebensprozeß der Selbstentfaltung Taos abschließt.

Taos unterschiedslose Abgründigkeit ist die einfache, unscheinbare Grundlage, aus welcher es sich durch dreimal gesteigerte Selbstsetzung zur Schöpferherrlichkeit erhebt. Und in der Schöpfung selber ist das empfangend Ruhende, der dunkle Niederschlag des Seins, das Yin, die niedrige Grundlage, aus welcher durch Aufnahme des belebend Tätigen, des Yang, und durch Erhebung beider zu einer Einheit vermittels des ausgleichenden und begrenzenden Prinzips, des Ki, die Weltfülle der Naturwesen hervorgeht.

Was das Leben Taos und der ganzen Natur lehrt, das wollen die Menschen bei sich selbst nicht gelten lassen. Sie wollen nicht anerkennen, daß die Grundlage ihres Seins an und für sich ein Hilfloses, Weniges, Wertloses ist, was doch Könige und Fürsten aus Bescheidenheit anerkennen und womit sie zugestehen, daß Tao allein zu verleihen und zu vollenden vermag (Kap. 41), weshalb sie gerade als Mächtige, Große und Treffliche anerkannt werden.

Im Zusammenhang mit dem Vorherstehenden sagt dies auch das folgende Sprichwort, das dabei an das Schriftwort erinnert: Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht, wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt. Nach Lao-Tse will es sagen: Wer sich seines Selbst entäußert, wird es gewinnen, wer sein Selbst voranstellt, wird es verlieren; vgl. Lukas (17,33): Wer sucht, seine Seele zu erhalten, wird sie verlieren, und wer sie verlieren wird, wird sie lebendig machen.

Lao-Tse hat das Sprichwort übernommen und hält ihnen als seine Lehre vor, was sie selbst lehren, aber weder richtig verstehen noch befolgen.

«Ihren natürlichen Tod», ihr Sterben, ist das Gegenteil von dem Sterben durch andere. Hier liegt ebenfalls ein allbekannter Spruch vor, wie ihn denn Lexika auch als eine alte Goldschmiedeinschrift anführen. Wer gedächte dabei nicht abermals des Spruches: Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen? Wer mit Gewalt und Hartnäckigkeit vorgeht, will dadurch die Herrschaft seines Willens durchsetzen, verliert darüber aber das Leben. Er will gewinnen, will zunehmen und büßt ein, nimmt ab. So zeigt sich verborgen ein waltendes und leitendes Prinzip, dem weder Gewalt noch Hartnäckigkeit standhalten kann.

Von diesem Gesichtspunkt aus will der Verfasser die Menschen mit ihren eigenen Waffen schlagen, aus dem, was sie lehren, seine Lehre ableiten. Diese folgt dann im nächsten Kapitel. Der letzte Satz lautet wörtlich: «Ich werde daraus machen einer Lehre Vater.»
 
 


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