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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 45




Der recht Vollkommne ist wie unzulänglich,
Sein Wirken aber unvergänglich,

Der recht Erfüllte ist wie leer,
Sein Wirken erschöpft sich nimmermehr.

Der recht Gerade ist wie krumm,
Der recht Gescheite ist wie dumm,
Der recht Beredte ist wie stumm.

Bewegung überwindet Kälte,
Ruhe überwindet Hitze,
Der Reine und Ruhige ist der Welt Richtmaß.
 
 



 

Nachdem Lao-Tse gelehrt, man solle verzichten, um zu gewinnen (Kap. 42), auch auf das eigene Tun verzichten (Kap. 43), denn was man damit gewinne, sei in Wahrheit doch nur Verlust (Kap. 44), so zeigt er nun, wie der heilige Mensch sich des eigenen Hervortretens und Darbietens enthalte und gerade dadurch für die Welt seinen höchsten Zweck erreiche. Der recht (hier wie in den folgenden Versen, wörtlich: «groß») Vollkommne ist wie, ursprünglich: «zerbrochenes Gefäß, Scherben», dann: «mangelhaft, unbrauchbar», also das Gegenteil von Vollkommenheit, er ist wie unzulänglich. Nicht stellt er sich so, auch nicht betrachtet er seine Vollkommenheit wie mangelhaft, sondern wirklich ist er so, wie wenn Vollkommenheit ihm mangelt. Denn nicht durch sich oder an sich ist er vollkommen, sondern durch das, dessen er gebraucht, d.h., wodurch er wirkt, durch die Quelle aller Vollkommenheit, an welcher er festhält, die ein «nie Zerreißendes, nie sich Abnutzendes, nie mangelhaft oder unvollkommen Werdendes», also unvergänglich ist.

Allgemein ausgedruckt: «Große Vollkommenheit ist wie mangelhaft; doch ihre Wirksamkeit (w.: Gebrauch) nutzt sich nicht ab. »Ebenso, wer recht erfüllt ist von dem, das auch in die Geister eingeht, ist wirklich an sich wie leer; es ist ja das im Vergleich mit seinem und der ganzen Welt Sein Nicht-Seiende, was ihn erfüllt.

Aber dies, was er anwendet, woraus er nimmt, entleert sich nie: «Er wendet an Unerschöpfliches.»- Allgemein: « Große Fülle scheint leer, ihr Gebrauch erschöpft sich nicht.» Die drei letzten Verszeilen beschränken sich darauf, das Verhalten des recht Geraden oder Aufrichtigen (allgemein: Gradheit), des recht Gescheiten, Befähigten oder Geschickten (allgemein: Geschicklichkeit) und des recht Beredten (allgemein: Beredsamkeit) zu schildern; er ist wie krumm, wie dumm oder ungeschickt, wie stammelnd oder schwerzüngig. Dies erinnert an den paradoxen alten chinesischen Tempelspruch: «Es ist schwierig, dumm zu sein» (für den, der um die wahre Vollkommenheit weiß). Wer also in der vollen inneren Gegenwart des unerschöpflich Allvollkommenen lebt, weiß und will nichts von eigenen persönlichen Vorzügen, tritt mit denselben nicht hervor und erscheint daher als ihrer entbehrend, und gerade darin besteht sein größter Vorzug.

Daß Unruhe, hefrige Bewegung (yang) die Kälte (yin), Nichtbewegung, Ruhe (yin) die Hitze (yang) überwinde, ist im Natürlichen eine bekannte Erscheinung, welche erwähnt wird, damit man sie auf das Sittliche überträgt. In der Welt, der weltlichen Ordnung, dem Reich, d.i. in der sittlichen Ordnung, ist nicht die Kälte, die Leidenschaftslosigkeit, sondern die Hitze der Begierden und Leidenschaften zu fürchten und zu bekämpfen. Durch unruhige, hefrige Gegenbewegung würde sie nur gesteigert, würden die noch Leidenschaftslosen nur erhitzt werden.

Ist aber im heißen Weltgewirr ein Reiner (yang), ein lauterer und klarer Mensch, der in überlegener Ruhe (yin) verharrt, so (yin und yang in Harmonie) richten sich alle Blicke auf ihn; ohne Reden, Tun, Eingreifen wirkt er beruhigend, durch sein bloßes Wesen und Verhalten wird er Offenbarer des rechten Lebensgesetzes, Mahner und Treiber zu dessen Erfüllung und dadurch Richtmaß der Welt, des Reiches. Ein solcher ist in den Versen angedeutet, der bei all seinen hohen und edlen Eigenschaften in ruhiger Zurückhaltung verbleibt. Lao-Tse weist hier, wie mehrfach, auf das Ideal hin, ohne dessen Verwirklichung in der Vergangenheit und Gegenwart zu behaupten.
 
 


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