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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 49




Der heilige Mensch hat kein beharrliches Herz,
aus der hundert Geschlechter Herzen
macht er sein Herz.

Gute behandle ich gut,
Nichtgute behandle ich auch gut.
Tugend ist Güte.

Aufrichtige behandle ich gut,
Nichtaufrichtige behandle ich auch gut.
Tugend ist Aufrichtigkeit.

Der heilige Mensch ist in der Welt voller Furcht,
daß er durch die Welt sein Herz verwirre.

Die hundert Geschlechter alle richten auf ihn
Ohr und Auge.

Dem heiligen Menschen sind sie alle Kinder.
 
 



 
 

Auch auf den Ruhm der Konsequenz verzichtet der Heilige. Konsequent wäre es, gegen die Nichtguten nicht gut, gegen die Nichtaufrichtigen nicht aufrichtig zu sein. Allein, das wäre eine Verletzung der Tugend und Lauterkeit des Herzens, welche er um so mehr scheut, als gerade er Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit ist und Vorbild aller sein soll, die, mit ihm verglichen, Unmündige sind, was doch sein Herz erbarmt, sie mit väterlicher Weisheit und Liebe zu erziehen. So verzichtet er auf die Beharrlichkeit seines Herzens und will nicht darin fest und konsequent erscheinen, daß er nach seinem eigenen Maßstab alle anderen beurteilt und behandelt; indem er vielmehr die Herzen der hundert Geschlechter für sein Herz ansieht, fühlt er mit ihnen allen und liebt sie wie sich selbst.

Der berühmte Ausspruch Lao-Tses heißt wörtlich: «Gute begüte ich, Nichtgute begüte ich auch », d.h. Gute wie Nichtgute nehme ich als Gute, bin gut gegen sie. Denn «Tugend ist Güte»; für «Tugend» (tê ) setzen andere das gleichlautende chinesische Wort für «erlangen», so daß dieser Satz lauten würde: So werden sie gut, d.h. dadurch, durch diese meine Behandlung, erlangen sie, die nichtguten, Güte. Mit «aufrichtig, treu» hat es dieselbe Bewandtnis. Jenes Verfahren des heiligen Menschen, für den Lao-Tse gewissermaßen in eigener Person eintritt, beweist, daß ihm wirklich der anderen Herzen für sein Herz gelten. Ferner enthält es die erzieherische Weisheit, durch Beschämung zu bessern, und ist ebenso auch das Richtige für die sittliche Selbstbewahrung.

Der heilige Mensch, in der Welt seiend, hat stets Furcht, daß er durch die Welt sein Herz verwirrt, trübt, verunreinigt. Dies fürchtet er nicht nur seinetwegen, sondern auch deshalb, weil er dann nicht mehr reines Vorbild aller sein, nicht ohne Worte, ohne Tun seine Aufgabe erfüllen könnte. Denn alle richten auf ihn Ohr und Auge, weil er die auffallendste Erscheinung, das größte Rätsel und die höchste Autorität für sie ist und sie unbewußt den Hauch, den Geist des Ewigen in ihm ahnen, vor dem sie sich unwillkürlich beugen. Und weil sie mit Spannung auf ihn hören und voll Vertrauen zu ihm aufblicken, darum stellt er sich zu ihnen wie ein Vater zu Kindern in Liebe, Fürsorge und Leitung und sorglicher Behutsamkeit für die Unbeflecktheit des eigenen Wandels. So betrachtet und behandelt er sie wie seine Kinder.
 
 

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