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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 50



Ausgehen ist Leben, Eingehen ist Sterben.
«Des Lebens Begleiter sind dreizehn,
Des Sterbens Begleiter sind dreizehn,
Lebt der Mensch,
so regt er der sterblichen Stellen auch dreizehn.»

Warum ist das ?

Wegen seiner Lebenslust Übermaß.
Denn wir hören:

«Wer das Leben zu erfassen weiß,
geht geradezu,
ohne zu fliehen vor Nashorn und Tiger,
geht hinein in ein Kriegsheer,
ohne anzulegen Panzer und Waffen.

Das Nashorn hat nichts,
wo es sein Horn einstoße,

Der Tiger hat nichts,
wo er seine Klauen einschlage.

Waffen haben nichts,
Wo sie ihre Schneide einführen.

Warum ist das?
Weil er keine sterbliche Stelle hat.
 
 



 

Auch dieses Kapitel dient noch zur Ausführung der Lehre vom «Verlieren oder Verzichten, um zu gewinnen», indem man das Leben nur gewinnt, wenn man auf das Leben verzichtet, daß man durch das Eingehen auf das Sterben den Tod Überwindet. Der erste Satz kann auch so verstanden werden: «Ausgehen zum Leben ist Eingehen zum Sterben.»

Heraustretend in das natürliche Leben, haben wir eben damit das Sterben begonnen; der Tod ist nur dessen letzter Akt. Leben selbst ist Sterben, ist die stete Hinbewegung zum Tode. Lebend, kommen wir um das Leben. Aber die Geburt der Seele in das wahre, in das ewige Leben, ihr Ausgehen in dieses, ist Eingang zum Sterben für die Welt, für die Begierden und Leidenschaften. Je mehr sie zum Leben kommt, desto mehr stirbt sie in diesem Sinn zu ihrem Heil. So überwindet das Leben des geistigen Sterbens das Sterben des natürlichen Lebens.

Über die dreizehn Begleiter des Lebens (n. Kap. 76 das Weiche und Schwache) und des Todes (n. Kap. 76 das Harte und Starke) sowie die im Leben regbaren dreizehn Todesstellen gibt es verschiedene Auffassungen, von denen keine völlig befriedigt. Am wahrscheinlichsten ist die Auslegung, daß mit der Zahl 13 im Hinblick auf die Atem- und damit Lebensregulierung (s. Kap. 6, Komm., 10, 52, 56) die 5 Sinne und 8 Öffnungen oder die 4 Glieder und 9 Öffnungen des menschlichen Körpers gemeint sind. Die Übersetzung «3 unter 10» und deren Aufteilung ist nach Sinn und Sprachgebrauch wohl abzulehnen.

Der allgemeine Gedanke ist klar: Den Eigenschaften, welche das Leben begleiten und daher ausweisen, stehen gleich viele Eigenschaften gegenüber, welche Begleiter und deshalb Zeichen des Sterbens sind; diese letzteren beruhen auf ebensoviel inneren Ursachen, welche der Mensch, sofern er sich dem Leben hingibt, in Trieb und Bewegung setzt, wodurch sie ihn dem Tod zuführen. Auf dies letztere bezieht sich die Frage: Warum das? Und die ebenso paradoxe wie richtige Antwort ist: Gerade dadurch treibt er sich dem Tod entgegen, daß er zu viel, zu begierig lebt und so durch das Leben das Leben aufzehrt.

«Wer taugt, das Leben zu ergreifen », der hat, nach den Schlußworten, «keine sterblichen Stellen, keine Sitze des Todes»; «Leben» kann hier nicht das natürliche Leben, das Leibesleben; sondern nur das geistige, überleibliche Leben bezeichnen, das mit dem Sterben nichts zu schaffen hat. Nur dieses ist das wahre Leben, und wer es zu erfassen weiß, kann es von Leibesgefahren nie bedroht finden, weder von den Hörnern und Tatzen wilder Bestien noch von den Waffen feindlicher Heere; er flieht sie daher auf seinem Wege nicht, bedarf auch keines Schutzes wider sie. Das Leben oder Sterben des Leibes hat gegen dieses Leben gar keine Bedeutung für ihn. Sein rechtes Leben kennt keinen Tod, und dem Leben, das dem Sterben zutreibt, ist er abgestorben.

 
 
 

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