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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 51



Tao erzeugt sie,
seine Tugend nährt sie,
sein Wesen gestaltet sie,
seine Kraft vollendet sie.

Daher ist
unter allen Wesen keines,
das nicht Tao verehrt
und seine Tugend wertschätzt.

Taos Verehrung, seiner Tugend Wertschätzung
ist niemandes Gebot und immerdar freiwillig.

Denn
Tao erzeugt sie,
seine Tugend nährt sie,
erhält sie, zieht sie auf,
vollendet sie, macht sie reif,
pflegt sie, schirmt sie.

Erzeugen und nicht besitzen,
wirken und nichts darauf geben,
erhalten und nicht beherrschen,
das heißt tiefe Tugend.
 
 
 



 

Dieses Kapitel kehrt zur Betrachtung Taos zurück, um zu zeigen, wie dessen liebevolle Fürsorge allen Wesen in vollkommner Selbstlosigkeit zugewendet ist, wodurch es der höchste ethische Anziehungspunkt und ethisches Urbild wird. Zugleich wird damit der Übergang zu der Betrachtung der Bürgschaft für die persönliche Fortdauer im Tode gewonnen, wodurch das nächste Kapitel an das vorige angeschlossen wird. - Bei «Tugend, Wesen, Kraft» in der 2., 3. und 4. Zeile wurde zum besseren Verständnis das Possessivum hinzugefügt. - «Tugend» ist hier die segensreiche Ausstrahlung, das Vermögen und die gute, wohltätige Macht Taos, von der die Erhaltung oder Ernährung aller Wesen (im Text genannt: «sie») abgeleitet wird.

Tugend, Wesen und Kraft sind nur Attribute von Tao (vgl. Kap. 21, 25). Sofern Tao Wesen ist, ist dies sein Wesen, durch welches es das Wesen aller Wesen ist, und ihr Wesen ist ursprünglich in ihm und wird von ihm gestaltet; gleiches gilt von seiner Kraft. - Wenn alle Geschöpfe Tao verehren und seine Tugend, seine Macht wertschätzen, so ist nicht gesagt, daß jedes Wesen dies mit Bewußtsein tut; gemeint ist, daß sie in bedürftiger Hingebung sich alle der einigen Quelle des Lebens und jedes Guten zukehren.

Niemand, auch Tao selbst nicht, gebietet seinen Geschöpfen, es zu verehren und seine Macht zu achten, und dennoch tun sie es immerdar «von selbst so», d. h. freiwillig und von Natur. Es ist dies ein von dem Menschen unablöslicher Trieb, obwohl er bei ihm sich verirren oder zerrüttet werden, aber auch zum heiligen Bewußtsein sich erheben kann. Immer wird er in ursprünglicher Unbewußtheit mit dem Menschen geboren, und niemals kann er ganz ausgerottet werden. In dem Ausspruch liegt daher die stärkste Aufforderung, das, was alle Wesen unbewußt tun, menschenwürdig mit Bewußtsein zu tun. Er lehrt aber auch, was das sei, wodurch alle zur Ehrfurcht und Hingebung angezogen werden, und enthält daher ebenso die Aufforderung, Tao darin ähnlich zu werden.

Betrachtet man nun die Reihe von Tätigkeiten, welche Tao und seiner Tugend, seiner Macht zugeschrieben werden, so muß man sich überzeugen, daß Taos Nicht-Tun (WuWei) alles andere als ein untätiger Zustand ist und mithin auch als Eigenschaft des heiligen Menschen (Kap. 10) nicht mit dem Quietismus zusammenfällt.

Während Tao für seine Geschöpfe alles tut, verfährt es doch dabei auf das allerselbstloseste. Für sich will es mit alledem nichts. Es setzt nicht ins Leben, schafft nicht, um dadurch etwas zu haben, es tut, wirkt und erweist nichts um seiner selbst willen, es bringt sie empor, zieht und leitet sie, ohne ihnen den Zwang der Herrschaft auf Zulegen. Da dies im ursprünglichen und eigentlichen Sinn von Tao und seiner Tugend ganz so ausgesagt wird, wie es in Kap. 2 und Kap. 10 von dem heiligen Mensehen gesagt war, so liegt in diesen Schlußworten auch eine Beziehung auf jene Aussprüche und eine Forderung ethischer Ähnlichkeit des Menschen mit Tao. Dieser Zusammenhang mit dem Ethischen ließ denn auch die Übersetzung des Schriftzeichens für «Tugend, Vermögen, Macht» (tê) durch «Tugend» angemessen erscheinen.
 
 


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