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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 57



Mit Redlichkeit regiert man das Land,
mit Arglist braucht man Waffen.

Mit Nichtgeschäftigkeit übernimmt man das Reich.
Woher weiß ich, daß es so ist?

Durch dieses:
Je mehr Verbote und Beschränkungen das Reich hat,
desto mehr verarmt das Volk,

Je mehr scharfes Gerät das Volk hat,
desto mehr wird das Land beunruhigt,

Je mehr Kunstfertigkeit das Volk hat,
desto wunderlichere Dinge kommen auf,

Je mehr Gesetze und Verordnungen kundgemacht werden,
desto mehr Diebe und Räuber gibt es.

Darum sagt der heilige Mensch:

Ich (übe) das Nicht-Tun,
und das Volk wandelt sich von selbst,
ich liebe die Ruhe,
und das Volk wird von selbst redlich,
ich (übe) die Nichtgeschäftigkeit,
und das Volk wird von selbst reich,
ich (übe) das Nichtbegehren,
und das Volk wird von selbst einfach.
 
 
 



 

Von der persönlichen Beschaffenheit des Regierenden geht dieses Kapitel zu dessen Verhalten bei der Regierung über, indem es zunächst in dem Begriff der Redlichkeit zusammenfaßt, was das vorige Kapitel durch die Unzugänglichkeit für äußere Einflüsse angedeutet hatte. Rechtes Regieren ist aber nur bei friedlichen Zuständen durchzuführen. Beim Gebrauch der Waffen, bei Kriegführung, geht es nicht zu ohne allerlei (wörtlich:) Seltsames, Verwunderliches, Ungeheuerliches, Ungerades, Unrechtes; hier daher als Gegensatz von Redlichkeit, Unredlichkeit, Arglist; wie denn auch aus Unredlichkeit zu den Waffen gegriffen wird, deren Gebrauch nach Kap.31 nur im «seltenen» Notfall gestattet ist.

Soll aber bei redlichem Regieren Waffengebrauch ausgeschlossen sein, so fragt sich, wie man der Notwendigkeit desselben vorbauen kann. Die Antwort ist, man Übernimmt und gewinnt das Reich nur durch «Nichthaben Geschäfte», durch Nichtgeschäftigkeit, was als Nichteinmischung ungefähr dem Nicht-Tun entspricht. Es ist die Enthaltung von Verboten und Einschränkungen, von Kriegszurüstungen, von Förderung bloßer Luxuskünste, von gesetzgeberischer Einmischung in die gesellschaftlichen Zustände, mit einem Wort: vom Vielregieren.

Die Behauptung, daß der Herrscher gerade durch Enthaltung von jener Vielgeschäftigkeit in den wahren Besitz der Herrschaft gelange, war so sehr allen herkömmlichen Ansichten zuwider, daß Lao-Tse voraussieht, man werde einen Beweis dafür verlangen. Er stellt daher die Forderung desselben durch die fortleitende Frage an sich selbst.

Der geforderte Beweis wird aus der Erfahrung genommen. Es pflegt eine Haupttätigkeit der Regierenden zu sein, durch Verbote und Beschränkungen mancher Art die Freiheit der Personen, der Beschäftigung, des Aufenthalts, des Eigentums, des Gewerbes und Verkehrs zu hemmen, zum Teil wenigstens in der Meinung, dadurch den Wohlstand der Gesamtheit zu heben. Dagegen lehrt die Erfahrung, daß gerade durch die Häufung solcher Maßregeln das Volk gehindert wird, durch Entwicklung eigener Kraft und Tätigkeit seine Lage zu bessern, daher nur immer mehr verarmt.

Je mehr Waffen, eigentlich «scharfe Werkzeuge» (nach anderen: Nutzwerkzeug) das Volk, aus Anlaß kriegerischer Unternehmungen der Regierenden, in Händen hat, desto leichter wird das Land (w.: die Landessippen) durch Aufstände und Unordnung beunruhigt und in Verwirrung gebracht. Begünstigung von Kunstgeschicklichkeiten, welche unnütze Luxusgegenstände oder seltsame neuartige Dinge (wohl auch Nutzwerkzeuge, Waffen) hervorbringen, erweist sich als Übelstand und ist zu meiden. Die Gesetze und Verordnungen beziehen sich auf die Strafrechtspflege, welche Raub und Diebstahl abstellen will. Sie verfehlen nicht bloß diesen Zweck, sondern, indem sie mit den Verbrechen bekannt machen und die Aufmerksamkeit auf dieselben leiten, erregen sie vielmehr das Gelüst und reizen zur Übertretung, da die nach fremdem Gut Lüsternen sich immer Klugheit genug zutrauen, die Verbrechen so auszuführen, daß sie unentdeckt bleiben und der Strafe entgehen.

Die aufgezählten Übelstände haben einen inneren Zusammenhang und Fortschritt; denn ein verarmendes Volk ist in der Regel zu Unruhen und Gewaltsamkeiten geneigt, und wird bei ihm die Begier nach überflüssigem Luxus und seltenen Dingen erregt, so werden deren immer mehr sein, welche die Mittel dazu sich auf unrechtmäßige Weise zu verschaffen versuchen.

Weil also die Erfahrung zeigt, daß jene öffentlichen Übel gerade durch die schlimmangebrachte Tätigkeit der Herrschenden hervorgerufen werden - Übel, welche ihnen des Volkes Herz entfremden und ihr Ansehen untergraben, sie folglich hindern, das Reich zu «gewinnen» -, darum sagt der heilige, Mensch, welcher das Herrscheramt übernimmt: «Ich enthalte mich des Tuns», wörtlich: ich habe nicht-tun (vgl. Kap. 37), ich übe das Nicht-Tun, das wohl hier zuerst die Enthaltung von schädlicher Gesetzgebung in sich schließen soll; denn der erwähnten Zunahme der Räuber und Diebe steht dann die Selbstbesserung (Umwandlung) des Volks gegenüber. Bewährt sich so der Herrscher als heiliger Mensch, dann richtet alles Volk Aug und Ohr auf ihn, wird durch sein Vorbild zur sittlichen Erkenntnis gebracht und durch die geistig überwindende Macht, die von ihm ausgeht, zur Nachfolge seines Vorbilds getrieben. Die Liebe zur Ruhe ist als Friedensliebe und Abneigung gegen Krieg zu verstehen.

Unter friedlicher Regierung entfremdet sich das Volk der Anwendung von Waffen, wird zu der Unredlichkeit, die mit ihr verbunden ist, nicht verleitet und der Regierung gegenüber aufrichtig und redlich, weder zu Unruhen noch zu Widersetzlichkeiten geneigt. So aber wird es sich «von selbst»  verhalten, weil mit dem Anreiz zu Unordnungen auch die Begierde danach wegfällt. Und das Volk wird von selbst reich, weil der heilige Mensch als Regent «nichtgeschäftig », ohne Geschäftigkeit ist (w.: ich habe nicht Geschäfte).

Bei diesem Verhalten muß er das unterlassen, was oben als Ursachen der Verarmung des Volks angesehen wurde, nämlich die Verbote und Beschränkungen, welche die freie Entwicklung des Wohlstands verhinderten, aber auch solche Unternehmungen, welche die Kräfte und den Besitz des Volks aufzehren. Soll das «Nicht-Begehren» des Herrschers die natürliche Einfachheit des Volks zur Folge haben, so müssen sich die Begierden auf die Dinge erstrecken, welche dieser Einfachheit zuwider sind. Das sind nun eben die genannten wunderlichen und außerordentlichen Sachen von unnützem Luxus, Werkzeuge oder Waffen, welche aufkommen, wenn die Erfinder derselben von oben her begünstigt werden. Man darf indessen weitergehen und die Liebhaberei für alles dahin rechnen, was einer würdigen Einfachheit entgegensteht.

Innere Sittlichkeit, äußerliche Rechtschaffenheit, Wohlstand und Lebenseinfachheit des Volkes sind die wesentlichen Grundlagen glücklicher öffentlicher Zustände und bleiben es auch bei jeder Regierungsform, die schließlich nur das Mittel sein soll, um sie zu erreichen und herzustellen.
 
 

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