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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 61




Ein großes Land, das sich herunterläßt,
ist des Reiches Band, des Reiches Weib.

Das Weib überwindet stets mit Ruhe den Mann,
mit Ruhe ist es untertan.

Darum:

Ein großes Land,
ist es untertan dem kleinen Land,
dann gewinnt es das kleine Land.

Ein kleines Land,
ist es untertan dem großen Land,
dann gewinnt es das große Land.

Darum:

einige sind untertan, um zu gewinnen,
einige untertan, um gewonnen zu werden.

Ein großes Land überschreite nicht den Wunsch,
die Menschen zu einigen und zu ernähren,

ein kleines Land überschreite nicht den Wunsch,
beizutreten und den Menschen zu dienen.

Erreichen sie beide, jedes, was es wünscht,
so soll das große untertan sein.
 
 
 



 

Zu den Regierenden gehörten auch die Fürsten der Lehnstaaten, welche von sehr verschiedener Größe nebeneinander in dem weiten Reich bestanden, und da auch ihnen galt, was von den Regierenden im allgemeinen gesagt wurde, so fügt Lao-Tse ein Kapitel über ihr gegenseitiges Verhalten hinzu, worin er zeigt, was ein ehrliches und friedliches Zusammenleben größerer und kleinerer Staaten allein möglich mache. Diese Staaten standen sich nicht als fremde gegenüber, sondern als Glieder eines großen Körpers; sie waren aufeinander angewiesen, obwohl gegenseitig voneinander unabhängig, und ihr Verhalten unter sich war von größter Bedeutung für die Gesamtheit. Ist für die Aufgabe der Menschheit, für eine sittliche Kulturentwicklung, nichts förderlicher als eine solche reiche Gliederung eines großen Ganzen, so bringt diese doch auch manche Gefahren mit sich. Der große Staat wird übermütig, herrschsüchtig, sucht die kleineren zu verschlingen oder zu unterdrücken und mit Gewalt sich dienstbar zu machen. Kleine Staaten, auf ihre Selbständigkeit pochend, überheben sich, werden den großen hinderlich und reizen sie. Um solchen Übelständen und den daraus quellenden Wirren zuvorzukommen, dringt Lao-Tse auf die praktische Betätigung eines ethischen Motivs; denn für ihn war es außer Frage, ob das Sittliche auch Fürsten und Staaten bändigen und beherrschen solle; es ist, als wende er auf die Staatenverhältnisse den evangelischen Grundsatz an: «Seid allesamt einander untertan» (I. Petr. 5,5; Eph. 5,21). Denn dies ist es, was er zum Heil des Ganzen sowohl vom großen wie vom kleinen Land fordert. Den gemilderten Begriff von «untertan sein» dürfte man aus der Schrift kennen.

«Sich herunterlassen», eigentlich «unterhalb» oder «niedrig fließen», findet seine Erklärung im 66. Kapitel, wo es heißt, daß Ströme und Meere deshalb aller Bäche Könige zu sein  vermögen, weil sie sich unterhalb derselben, d. h. in einem niedrigeren Niveau zu erhalten wissen. Es sagt also dasselbe wie später «sich unterbegeben, untertan sein» und ist gesetzt, um an das Naturgesetz zu erinnern, wonach nur dem, was niedriger fließt, anderes zuströmt. Verfährt so ein großes Land, dann erweist es sich nach seiner ihm für das ganze Reich zukommenden, bindenden und weiblichen Natur. Mit «Band» ist die Eigenschaft des großen Landes gemeint, wonach es für das Reichsganze die kleineren Länder zusammenhält und einigt; Weib ist nicht als Gattin, sondern als weibliche Natur gedacht. Das Weibliche überwindet immerdar mit Ruhe das Männliche, und gerade dadurch, daß es «mit Ruhe untertan ist». Der Mann (Yang) ist der Starke, von Natur Heftige und wird durch die stille Sanftmut des Weibes (Yin) überwunden. Ist dies die Erläuterung von Lao-Tses mehrfach wiederholtem Satz, daß das Schwache das Starke überwinde, so muß das «Weib» als das physisch Schwächere gedacht sein. Wenn daher das sich niedrigende große Land «des Reiches Weib» genannt wird und es heißt, das Weib überwinde den Mann, so muß es einem Stärkeren, Männlichen, gegenüber gedacht sein, und dies ist das Reichsganze unter dem Reichshaupt. Es wird also den größten und siegenden Einfluß auf das ganze Reich gewinnen, wenn es sich in Ruhe untertan macht. Hier gilt die Aussage ganz allgemein. Denn auch für das Verhältnis zu den kleineren Staaten, wovon nun die Rede, soll das große Land auf seine Stärke verzichten; es soll nicht mit physischen, sondern mit ethischen Kräften wirken, «moralische Eroberungen» machen, nicht unmoralische.

Solche moralischen Eroberungen.sind gemeint mit «übernehmen, gewinnen» (vgl. Anfang Kap. 57); keinesfalls handelt es sich um Erwerb der kleineren Länder, sei es durch Annektion oder erzwungene Abhängigkeit. Denn unter «Land, Staat» ist bei den kleinen wie bei den großen die politische Gesamtheit einschließlich der Regierung, ja diese vornehmlich, zu verstehen, so daß der kleinere Staat, auch wenn der große ihn für sich gewinnt, ihm weder pflichtig noch unterworfen wird, vielmehr dem Wesen nach selbständig bleibt, der große aber, auch wenn er sich gewinnen läßt, das unerläßliche Maß seiner Selbstbestimmung nicht aufgibt. Denn auf beiden Seiten ist das Untertan sein als ein freies, nicht auf Rechtspflichten, noch weniger auf einer Nötigung beruhendes zu denken und will nicht mehr sagen als Abwesenheit von Überhebung und Anmaßung unter Hingebung, Ehrerbietung und rücksichtsvoller Dienstwilligkeit auf beiden Seiten, und zwar aus ehrlichem Herzen und nicht vorteilshalber erheuchelt.

Indem jedes dem anderen sich dienstfreundlich ergeben zeigt, ist jedes in der Lage, sowohl das andere für sich zu gewinnen, als auch für das andere gewonnen zu werden. Die Absicht der Antithese ist, zu zeigen, daß der Wunsch, den anderen Staat für sich einzunehmen, nur zu erreichen sei, wenn auch dieser zu gleicher Hingebung sich heruntertue und nicht aus Anmaßung mehr für sich verlange, als er nach seiner Bedeutung fordern darf.

Das, worüber hinaus der Wunsch oder das Begehrendes großen wie des kleinen Landes sich nicht erstrecken soll, bezieht sich auf ihr gegenseitiges Verhältnis, d.h. auf ihre auswärtige Politik untereinander. Bei geordneten Reichsverhältnissen konnte kein einzelner Staat sich seiner Selbständigkeit begeben, da er Reichslehn war. Von einer Einmischung oder Beschränkung in betreff der inneren Angelegenheiten ist also nicht die Rede. Bleibt aber in dieser Hinsicht die Integrität jedes Staates gewahrt, so ist das Verlangen des großen Staats, für das allgemeine Wohl die Bevölkerungen miteinander zu verbinden und zu diesem Zweck gleichsam das Hirtenamt zu führen, ebenso berechtigt wie das Verlangen des kleinen Staats, in diese Verbindung einzutreten, um damit den Leuten, zunächst den eigenen, zu dienen.

«Ernähren», auch «versammeln, zusammenhalten» bezeichnet ein friedlich schützendes Führen und Zusammenhalten, das den Menschen ihren Unterhalt sichert. Das «Beitreten» ist auf die Verbindung unter des großen Staats Führung, das «Dienen den Menschen» auf die Förderung der Interessen aller, zunächst aber der eigenen Bevölkerung, zu beziehen. Es handelt sich hier um ein freies Freundschaftsbündnis, das, auf gegenseitiger Kondeszendenz beruhend, zum Besten aller dem großen Staat die Führerschaft, dem kleinen den Eintritt unter dieselbe gewährt. Mehr als dies soll keiner von beiden verlangen, also ,keiner dem anderen in seinem eigenen Gebiet Beschränkungen auflegen oder anderweitige Vorteile ihm abnötigen. Und nach Erlangung dessen, was jedes Land von dem anderen infolge seiner Kondeszendenz erwarten durfte, soll das große Land diese Haltung nicht wieder aufgeben und jene gewinnende Herunterlassung und Selbstnachsetzung nicht wieder fahren lassen.
 
 

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