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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 65




Die vor alters gut waren, Tao zu tun,
klärten damit das Volk nicht auf,
sie wollten es damit einfach erhalten.

Das Volk ist schwer zu regieren,
wenn es allzu klug ist.
Durch Klugheit das Land regieren,
ist des Landes Verderben.

Nicht durch Klugheit das Land regieren,
ist des Landes Segen.

Wer dies beides weiß,
ist auch ein Musterbild.

Stets des Musterbilds sich bewußt sein,
das heißt tiefe Tugend.
Tiefe Tugend ist abgründig,
ist unerreichbar,
ist mit den Wesen in Widerspruch,
dann aber erhält sie große Nachfolge.
 
 
 


Füllt man die große Menge mit demjenigen Wissen, das sie zwar verschlucken, aber nicht zu verdauen imstande ist, so entkettet man sofort den Hochmut des Durchschnittsverstands, der seine zur Schau getragene Moral auf dem Altar selbstsüchtiger Interessen darbringt; mit den vom Verstand gedrehten Schnüren des rechnenden Nutzens wird das Gewissen erdrosselt, und was diese beschränkte Halbbildung nicht unter sich bringen kann, duldet sie auch nicht über sich. Gegen die Förderung dieser Aufklärung und Viel-Klugheit richtet sich das Kapitel.

Männer des Altertums, «die da Tao gut (trefflich) ausübten» und ihr Einssein mit Tao durch die Tat bewiesen, gebrauchten diese ihre Stellung nicht, um das Volk aufzuklären und es klug zu machen, was teils im Wissen von allerlei Dingen besteht, teils in der Fertigkeit, Menschen und Verhältnisse zu beurteilen, um ohne Rücksicht auf das Sittliche daraus den möglichsten Vorteil zu ziehen. Jene Alten, die sich auf die rechte Weise Taos beflissen, bestrebten sich vielmehr, damit oder dadurch das Volk einfältig zu erhalten; dadurch, daß sie durch ihr Vorbild dem Volk die Erkenntnis Taos brachten, sollte es in der glücklichen Unkenntnis dessen erhalten werden, was seine Sitteneinfalt, Zufriedenheit und Redlichkeit hätte aufheben und jene Folgen der Aufklärerei herbeiführen können.

Eine Regierung kann nicht leicht das Volk glücklich machen, wenn bei demselben die ein seitige, dem ethischen ab gewandte Verstandesbildung vorherrscht, welche im Durchschnittsverstand die Einbildung einer übergroßen Klugheit, die Selbstüberhebung der Seichtigkeit, Unzufriedenheit und Unredlichkeit zur Folge hat. «Durch Klugheit» will eben sowohl sagen, daß die Regierenden ihrerseits lediglich klug verfahren wollen, als daß sie durch Klugmachung, durch Aufklärung des Volks, dasselbe gut zu regieren denken. Klugheit ist hier immer als alleiniges Regierungsmittel, unter Absehen von Sittlichkeit, Tao und Tugend, gedacht; auf der Seite der Regierenden also wesentlich jener macchiavellistische Pragmatismus gemeint, der auf seine Zwecke losgeht durch kluges Vorausplanen, schlaues Berechnen, Aufregung der Volksleidenschaften, gewandte Benutzung derselben und kühnes Hinwegschreiten über Sittlichkeit und Recht, Treue und Wahrheit, wo es sicheren Vorteil bringt. Durch Klugheit - und nicht durch Tao und Tugend - das Land regieren, ist des Landes Verderben, eigentlich: «Dieb, Räuber»; nicht durch Klugheit - sondern durch Tao und Tugend - das Land regieren, ist des Landes Segen, Glück.

Die alten Herrscher waren als Muster aufgestellt, daß sie ihre höhere Weisheit nicht dazu gebraucht, das bloße Wissen und Klugsein im Volk empor zubringen, vielmehr dazu, es in seiner Sitteneinfalt zu erhalten. An ersteres ist das Unheil, an letzteres das Heil des Staats geknüpft. Wer dies beides weiß und danach verfährt, ist auch ein Musterbild, wie jene Alten es waren. Immerdar das Musterbild erkennen, sich stets dieser Aufgabe bewußt bleiben und sie erfüllen, das heißt tiefe Tugend. «Tief», weil «abgründig», verborgen, tiefinnerlich; «unerreichbar», weil fern, entfernt; den Wesen «entgegengesetzt», weil widerstrebend und fremd.

So erscheint die Tugend, die ihre Musterbildlichkeit stetig erweist, zuerst unfaßlich und befremdlich, dann aber wird sie ihre Wirksamkeit zeigen und große Nachfolge (auch Zustimmung, Folgsamkeit, Willfährigkeit) erlangen.
 
 

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