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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 69




Ein Kriegserfahrener hat gesagt:
«Ich wage nicht, den Hausherrn zu machen,
aber ich mache den Gast.
Ich wage nicht, einen Zoll vorzugehen,
aber ich weiche einen Fuß zurück.»

Das heißt
vorgehen ohne Vorgehen,
zurückwerfen ohne Arme,
nachsetzen ohne Angriff,
gefangen nehmen ohne Waffen.

Kein größeres unheil gibt es,
als leichtfertig anzugreifen.

Leichtfertig angreifen,
ist nahezu unseren Schatz verlieren.

Denn stoßen gegnerische Heere aufeinander,
so siegt der Weichende.
 
 



 

Im vorigen Kapitel war gesagt, wie der Weise dem Krieg zuvorzukommen suche; bei aller Friedfertigkeit kann er jedoch in Lagen geraten, wo er von den Waffen Gebrauch machen muß (Kap. 31). Hier wird sein Verhalten beschrieben. Mit Zögern und Zurückhaltung wird er darangehen, dem Feind zeigen, daß er seiner gern verschonte, und ihm Zeit zur Überlegung geben; zum wirklichen Angriff wird er sich nur schwer entschließen, eingedenk der erbarmenden Liebe, der Genügsamkeit und des Nichtvorangehens; aber eben dies wird ihn zum Sieger machen. - Die Worte des erfahrenen Kriegers sind vielleicht Zitat. In der chinesischen Gesellschaft pflegten die Gäste in allem dem Vorgang des Gastgebers, des Hausherrn, zu folgen. Die Vergleichung liegt aber auch in der Einladung. Ich nötige niemand zur Schlacht; nötigt er aber mich, so bin ich bereit, wenn auch zaudernd. Wer zu einer Schlacht, nicht aus Mutlosigkeit, sondern aus Menschenfreundlichkeit, sich nur zaudernd zwingen läßt, der wird dieselbe Gesinnung auch während des Kampfes beweisen und dadurch seine wahren Erfolge erringen, dadurch vordringen, zurückwerfen, nachsetzen, gefangen nehmen; nicht aber wird er sie erreichen durch sein Vorgehen, seine Arme, seinen Angriff, seine Waffen, welches alles er vielmehr anwendet, als wendete er es nicht an. Dies gibt ihm die sittliche Überlegenheit, welche die Gegner mehr als die Waffen zur Unterwerfung bringt.

Sich selbst schädigt am meisten, wer es leicht nimmt, anzugreifen, oder wer leichtfertig angreift. Denn da das Zögern des guten Menschen in solchem Fall seine drei Schätze (Kap. 67) zur Ursache hat, so kommt es schon einem Verlust (w.: Betrauerung) dieser nahe, wenn man leichtfertig angreift. Das leichtfertige Aufnehmen der Schlacht und die damit verbundene Gefahr des Verlusts jenes Schatzes ist ein so großes Unheil, weil man durch diesen Verlust des Sieges. verlustig geht. Denn geschieht es, daß gegnerische oder gleich starke Kriegsheere miteinander zusammenkommen, so siegt der Weichende (w.: abnehmen, sich vermindern, schwach werden, Trauerkleid), nach anderer Lesart: der Mitleidige (w.: Trauernde); in beiden Fällen der, welcher seinen Schatz bewahrt hat (weichend, d. h. genügsam, zurückstehend; mitleidig, d.h. barmherzig) und sich dann wie bei einem Trauerfall verhält (Kap. 31). Letzteres ist in den Schriftzeichen angedeutet.
 
 

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