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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 72




Fürchtet das Volk nicht das Furchtbare,
dann kommt das Furchtbarste:
Man mache nicht eng seine Wohnung,
nicht widrig sein Leben!

Nur weil man es nicht widrig macht,
Deshalb wird es nicht widrig.

Daher:
Der heilige Mensch
erkennt sich selbst,
aber sieht nicht sich selbst an,
liebt sich selbst,
aber schätzt nicht sich selbst hoch.

Darum läßt er jenes und ergreift dieses.
 



 

Das Kapitel hängt mit den beiden folgenden zusammen; alle drei haben das Strafrecht und insbesondere die Todesstrafe zu ihrem Gegenstand. Zunächst wird allgemein von den Ursachen der Verbrechen und von deren Vorbeugung gesprochen.

Was Furcht oder Ehrfurcht einflößt, wird die Majestät, das Gewaltige, Furchtbare genannt. Fürchtet das Volk dieses nicht, dann wird das «große Furchtbare», das Furchtbarste, herbeikommen. Kann dies nur gänzliches Verderben und Umkommen bedeuten, so muß angenommen werden, daß dies von einer zu fürchtenden Macht ausgeht, die den Tod verhängt. Sie verhängt ihn aber, wenn das Volk nicht fürchtet, was es fürchten soll, und dieses «Furchtbare» kann daher nur der Bruch des Gesetzes, die Herausforderung der Todesstrafe, mithin das Verbrechen sein. Scheut sich also das Volk nicht vor dem Furchtbaren, die Majestät der Strafgewalt durch Verbrechen herauszufordern, so wird das Furchtbarste eintreten, daß diese sich mit ihrer ganzen erdrückenden Wucht gegen die Verbrecher kehrt und sie tötet. Es ist damit nicht ausgesprochen, ob man sich diese richtende Macht als eine menschliche oder als eine übermenschliche zu denken hat.

Nach dem ersten drohenden Satz heißt es wörtlich:
 

Nicht-habe eng seine Wohnung,
nicht widrig sein Leben;
so nur nicht widrig,
daher nicht widrig.


Die Stelle ist doppeldeutig. Wenn davon geredet wird, daß man seine Wohnung nicht eng, sein Leben nicht widrig, überdrüssig, beschränkt oder gedrückt machen solle, so führt die Forderung des Zusammenhangs darauf, die daraus folgende Unzufriedenheit mit den gegebenen Zuständen als die Ursache jener Verbrechen anzusehen. Auch ist ja die Ungenüge am Eigenen in Wirklichkeit Mutter der Begier nach Fremdem, welche, in Tat übergehend, das Verbrechen gebiert. So nicht minder im großen bei Länder- und Kronenraub als im kleineren bei Straßenraub und Diebstahl. Folgt aber dem Verbrechen das «Furchtbarste», so ist es Sache sittlicher Freiheit, die erste Quelle des Furchtbaren, des Verbrechens, zu verstopfen; deshalb die zweifache Forderung, sowohl an Volk wie an Regierung, daß man seine Wohnung nicht eng, sein Leben, d.i. seine Lebensweise und seinen Lebensunterhalt, nicht widrig machen solle; der Doppelsinn meint: erstens nicht infolge eigener Gier und Selbstsucht (unter Verlust der drei Schätze) es sich selbst so machen, es selbst so ansehen, und zweitens nicht seitens der Regierung infolge deren Gier und Selbstsucht (unter Verlust der drei Schätze) es dem Volk so machen, d.h. das Volk nicht bedrücken (durch enge Haft) und nicht unterdrücken oder widerwillig machen (durch überhohe Besteuerung); vgl. Kap. 75: erstens des Volkes Lebensüppigkeit, Lebensübermaß, zweitens seitens der Regierung des Volkes Überbesteuerung (und damit Hunger).

Nach Lao-Tse liegt es bei den Regierenden und dem Volk, dass diesem seine Wohnplätze genügen, friedlich und behaglich, seine Lebensweise ihm lieb und freudig sind (vgl. Kap. 80). Er kann daher die doppelte Forderung an Volk und Regierung stellen, daß man sich dem gemäß verhalte. Macht man (sich selbst, und die Regierung dem Volk) es (das Leben, oder das Volk) nicht widrig, so wird es nicht widrig.

Aus sittlicher Verdunklung durch Gier und Selbstsucht stammen der meisten Menschen, d.h. der Regierenden und des Volkes, Ungenügsamkeit und Unzufriedenheit mit Zuständen und Lebensweise. Dies erkennt der heilige Mensch. Daher erkennt er sich selbst als solchen, dessen Genüge und Zufriedenheit nicht an äußerlichen Bedingungen hängt, aber sieht nicht sich selbst an, d.h. hat nicht-seine Person und seine Interessen im Auge; liebt sich selbst mit derjenigen Selbstliebe, welche dem heiligen Menschen zusteht, mit welcher alle echte Menschenliebe beginnt und der Gegenstand der inwendige, nicht äußerlich bedingte Mensch ist; aber er schätzt nicht sich selbst hoch, als ob er ein solcher sei, der eine viel günstigere Lage verdient, da echte Selbstleibe der gerade Gegensatz der Selbstsucht ist (Kap. 22, 24, 39 – Betreffend der Schlußformel s. Kap. 12 und 38 den Kommentar).
 
 




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