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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 74




Fürchtet das Volk nicht den Tod,
wie will man es mit dem Tod schrecken?

Wenn man macht,
daß das Volk stets den Tod fürchtet,
und wir können den,
der Schreckliches tut,
ergreifen und töten,
wer wagt es?

Immerdar gibt es einen Blutrichter,
der da tötet.
Wenn man anstatt des Blutrichters tötet,
das heißt, anstatt des Zimmermanns behauen.

Wenn man anstatt des Zimmermanns behaut,
bleibt selten die Hand unverletzt.
 
 


Der Anfangssatz des 72. Kapitels setzte voraus, daß das Volk das Furchtbare wohl fürchten würde, wenn es das Furchtbarste, den Tod, als dessen Folge voraussehe. Daran schließt sich hier der Gedanke, daß, um diesen Zweck zu erreichen, d.h. um das Volk vom Furchtbaren durch den angedrohten Tod zurückzuschrecken, es auch erforderlich sei, daß es den Tod fürchte. Es wird ihn aber nicht fürchten, wenn das Leben ihm ebenso schrecklich gemacht wird wie der Tod, wenn nicht bloß jene Enge und Beschränkung es drückt, über welche sich der Geist erheben, ja die er lieb gewinnen kann, sondern Mangel am Unentbehrlichsten, Lebensunsicherheit und dabei Überbürdung die hilflosen Menschen täglich ängstigt und plagt (vgl. Kap. 75). Die Erfahrung lehrt, wie bei solchen Zuständen die Gleichgültigkeit gegen den Tod um sich greifen kann, zugleich aber auch die Verbrechen zunehmen, weil dann der Tod, den das Gesetz androht und der Richter verhängt, kein Schreckmittel mehr für das Volk ist.

Gleichgültigkeit gegen den Tod ist Gleichgültigkeit gegen das Leben. Man fürchtet den Tod nur, wenn man das Leben liebt. Man liebt das Leben nur, wenn es das Nötige gewährt, gesichert und unbelastet ist. Ist dies beim Volk der Fall, so wird es den Tod fürchten, und befindet es sich «stets» in diesem Zustand, dann werden auch die Todesstrafen wirksam sein, und das Bewußtsein, daß der Missetäter, «der Ungeheuerliches tut», ergriffen und getötet werden kann, wird die Menschen abhalten, dergleichen zu wagen. Lao-Tse spricht in der ersten Person, «ich» oder auch «wir», um anzudeuten, daß bei jenen Zuständen die Todesstrafe immer von Verbrechen abhalten werde, es mag sie vollziehen, wer da will; allein, nicht jeder soll sie vollziehen, sondern der allein, der dazu bestellt ist.

Obgleich der Blutrichter, «der richtet (vorsteht, verwaltet) das Töten», eben sowohl vom Himmel wie von einem menschlichen Richter gesagt sein könnte, so ist in diesem Zusammenhang eine Annahme des letzteren folgerichtiger. Wer wird eine Missetat wagen, hießt es, wenn wir, d.h. jedes Ich, ihn dafür mit dem Tod strafen können? Nach anderer Auslegung: wer wagt es, einen Missetäter zu ergreifen und zu töten? Allein (bei beiden Auslegungen), nicht jeder soll dies tun, d. h. den Tod vollstrecken; denn zu diesem Zweck sind ordentliche Strafrichter bestellt und stets vorhanden. Nicht unabsichtlich dürfte nur das Töten dem Strafrichter zugewiesen sein, nicht aber das «Ergreifen », wozu die Behörde wohl jeden für berechtigt, wenn nicht für verpflichtet halten mochte.

Das Gleichnis sagt, nur der ordentliche Richter hat die Kenntnis, im geeigneten Fall mit dem Tod zu strafen, und niemand soll ihm ins Amt greifen, da er sich hierdurch zumeist nur selbst beschädigen würde. Ohne Zweifel soll dies auch den Regierenden gesagt sein, schwerlich aber im Sinn einer Verwerfung der Todesstrafe überhaupt (indem man unter Blutrichter den Himmel versteht, der durch Pest, Hungersnot, Überschwemmung, Erdbeben usw. tötet); dies würde der Absicht des Kapitelanfangs zuwiderlaufen. Nur mit der Weisheit des Meisters (entsprechend Kenntnis, Geschicklichkeit und Zuständigkeit eines «großen» Zimmermanns, d.h. Meisters; damit ist ebenfalls nicht der Himmel gemeint) soll die Todesstrafe gespart werden. Zugleich richtet es sich gegen die herkömmliche Blutrache.
 
 

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