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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 76




Der Mensch
tritt ins Leben weich und schwach,
er stirbt hart und stark.

Alle Wesen
treten ins Leben weich und zart,
sie sterben trocken und dürr.

Darum:
Das Harte und Starke ist Begleiter des Todes,
das Weiche und Schwache ist Begleiter des Lebens.

Daher:
Ist ein Kriegsheer stark,
dann siegt es nicht.
Ist ein Baum stark, dann ist er am Fall.

Das Starke und Große bleibt unten,
das Weiche und Schwache bleibt oben.
 
 
 
 


Der letzte Ausspruch des Kapitels zeigt, daß es sich hier noch um das Verhalten der Oberen, des Regierenden, handelt. Nicht Mangel an Widerstandsfähigkeit, sondern ihr weiser Nichtgebrauch ist mit der Weichheit gemeint, und mit der Schwäche nicht Unkraft, sondern Zurückhaltung der Kraft. In der Natur geht das Organische durch den Verlauf des Lebens allmählich ins Mechanisch  und A\1.organische über, und" eben darin besteht der Prozeß des Absterbens. In der ersten Jugend selbständiger Organismen ist die wirkende Kraft ihres unsichtbaren Individualprinzips und deren Tätigkeit am größten, während. ihr sichtbares Stoff gebilde noch am nachgiebigsten und für Außeneindrücke am empfänglichsten ist. Darum ist das Weiche und Schwache Begleiter des Lebens und des Emporwachsens. Hat das im materielle Prinzip im Gestalten des materiellen Gebildes und in seiner hierdurch bedingten Selbstentfaltung seine Aufgabe erschöpft, so zieht es sich von jenem allmählich auf sich zurück, und in demselben Verhältnis beginnt die Materie sich selbständig zu behaupten, stockt, starrt und ernartet. Da der Ausgang dieses Prozesses der Tod ist, so sind das Harte und Starke oder Feste Begleiter des Todes (Kap. 50).

An zwei Beispielen wird gezeigt, daß im Menschenleben wie in der Natur das;' was sich nur als stark erweist, zu seinem Fall reif ist. «Stark», von einem Kriegsheer ausgesagt, heißt «mächtig, gewaltsam», auch übermütig; von einem Baum gesagt, heißt es «ausgewachsen, fest». Wo ein Heer im bloßen Vertrauen auf seine Stärke rücksichtslos in den Krieg zieht, da ist dies bereits die Anzeige, daß es unterliegen wird. Wo ein Baum bereits die volle Stärke seines Wachstums erreicht hat, da ist dies ein Zeichen, daß er bald fällt; «am Fall », wörtlich: alle, alles, d. h. er ist geliefert, am Ende, fällt oder wird gefällt, abgehauen und verarbeitet (es scheint hier ein Textverderbnis vorzuliegen).

Die physischen Verhältnisse sind ins Ethische zu übertragen. Unter Stark und Groß ist daher zu begreifen, was für sich fertig und abgeschlossen in seiner Entwicklung bereits erstarrt ist, der WIlle, der nur noch sich selbst durchsetzen will, das Gemüt, das nicht mehr durch Aufnahme fremder Interessen seine Fülle erneuert. Wie ein Heer, das geschlagen, wie ein Baum, der gefällt wird, wie das Ausgelebte, das dem Tode entgegen zu Boden sinkt, gehören sie hinunter, müssen unterliegen, sind untauglich zum Herrschen und werden vergeblich streben, sich oben zu erhalten oder wieder emporzukommen. Weich und Schwach 'in edlem Sinn bezeichnet die großherzige Milde und Hingebung dessen, der sich selbst vergessend und voll quellenden Gemütslebens das Wohl und Heil aller als das seinige fühlt und an sieht, der darin sein Leben, stets aufs neue, segensreich auswirkt und weiterentfaltet. Dies ist das Gemüt, dazu beschaffen, um oben - um ein Oberer zu sein und in seiner Höhe zu beharren (Kap. 36, 43, 78).
 
 

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