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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 80





Das Land sei klein, das Volk wenig,
lasse es Beamte für zehn und hundert Menschen haben
und nicht gebrauchen.

Lasse das Volk den Tod schwer nehmen
und nicht in die Ferne ziehen.

Obschon es Schiffe und Wagen habe,
nicht habe es Anlaß, sie zu besteigen.

Obschon es Panzer und Waffen habe,
nicht habe es Anlaß, sie anzulegen.

Lasse das Volk wieder Schnüre knoten
und sie gebrauchen.

Süß sei ihm seine Speise,
schön seine Kleidung,
friedlich seine Wohnung,
freudig seine Sitte.

Nachbarländer seien gegenseitig zu erblicken,
der Hähne und Hunde Stimmen gegenseitig zu hören,
und das Volk erreiche Alter und Tod,
ohne einander zu besuchen.
 
 


Zum Schluß wird voll Wärme das ideale Bild eines glücklichen Völkchens gezeigt, wie es durch Anwendung der vom Verfasser dargelegten Regierungsgrundsätze sich in Sittlichkeit, Genügsamkeit, Frieden und Sitteneinfalt ausbilden würde.

Eine unverkennbare Vorliebe findet sich für kleine Länder mit geringer, wenig zahlreicher Bevölkerung, und daß die Einwohner kleiner Länder in der Regel glücklicher und zufriedener sind als die Angehörigen großer Staaten, wird nur von denen geleugnet, welche die kleinen Länder nicht kennen oder das Glück an falschen Zielen suchen.

 Die Auslegung der Orte «Gerät von (für) 10 und 100 Mann» ist zweifelhaft. Einige erklären «Gerät» als Werkzeug, Haus-, Feld- oder Kriegsgerät für zehn oder hundert Menschen, andere als Beamte (Kap. 28, 67) von gewissem Rang. Der Sinn ist, daß es als ein glücklicher Zustand angesehen wird, wenn das Volk eines kleinen Staats (die kleinsten Fürstentümer waren etwa fünf Quadratmeilen groß) nur zehn zu ihrem Amt wohlgerüstete (durch Gerät oder Fähigkeit) Vorsteher besitze oder brauchbare Beamte für (von) zehn bis hundert Menschen habe und selbst für  diese wenigen kein Anlaß sei, ihre Ausrüstung und Amtsgewalt zu gebrauchen, weil weder Anklagen, Streitigkeiten noch Unordnungen oder Verbrechen vorkämen.

Da es die durch Vorbild des heiligen Regenten bewirkte Sittenreinheit ist, welche die Beamten unnötig macht, so ist die Liebe zum Leben, welche macht, daß das Volk schwer oder ungern stirbt, mithin den Tod fürchtet, zwar nicht mehr erforderlich, um es von Verbrechen zurückzuhalten, wohl aber könnte sie ihm ein Anlaß werden, das Land zu verlassen und in die Ferne auszuwandern, wenn etwa die Zustände in der Heimat unerträglich würden. Darum seien die Zustände so glücklich, daß sie den Menschen nicht bloß das Leben lieb, sondern auch dessen Genuß im Heimatland wünschenswert machen, was allerdings eine milde Regierung voraussetzt, die des Volkes Kraft, Zeit und Gut auf alle Weise schont und ihm möglichst freie Selbstentwicklung gestattet.

Zum engeren Gebrauch täglichen Verkehrs haben die Leute Schiffe und Wagen; was aber könnte sie veranlassen, dieselben zu Reisen zu besteigen? Doch nur Wünsche und Begierden nach Dingen, die sie daheim vermißten, nun aber nicht entbehren, weil sie dieselben nicht kennen oder nicht begehren, weil ihnen genügt, was sie besitzen (Kap. 3). Noch ließe sich denken, sie müßten sie besteigen, um vor eindringenden Feinden zu flüchten; aber wem wird ihr friedfertiger Herrscher Anlaß geben, ihn zu bekriegen? Genügsam und friedlich verharren sie in ihren Wohnsitzen. Besitzen die Leute für Notfälle auch Schutz- und Trutzwaffen, so werden sie doch nie in den Fall kommen, sie anzulegen, sich damit zu rüsten; denn ihr Herrscher hat keine Feinde und strebt nicht nach Taten und Ruhm, sie selbst sind friedfertig und hassen, keinen.

Im Anhang zum Yi King, dem Hi Thse, wird berichtet, da hohe Altertum habe sich des Knotens von Schnüren anstatt der Schrift bedient, ein Verfahren, dessen sich auch die alten Peruaner in ihren Quippus bedienten (zur Erinnerung vgl. unseren «Knoten im Taschentuch»). Lao-Tse weist wiederholt auf das verhängnisvolle Band, das höhere Geisteskultur und Sittenverderbnis aneinander bindet. Rühmt er daher den glücklichen Zustand, daß das Völkchen jenes kleinen Staats zur Anwendung des Schnüreknotens zurückkehre, so ist ihm diese Bezeichnung für dessen Rückkehr zur anfänglichen Sitten einfalt, wo die Menschen noch «unverarbeitetes Holz», noch unverkünstelt, unverdorben und natürlich-einfach sind. Dies entspricht Rousseaus «Retour à la nature ». In Nahrung, Kleidung, Wohnung und Gebräuchen, kurz, in allen Zuständen möge oder wird das Volk dann glücklich und zufrieden sein, was das Endziel jeder Regierung sein, sollte. So sehr wird das kleine Volk in seinem engen Glück sich begnügt finden, so sehr sein beschränktes Heimatland lieben, so fern sein von allen darüber hinaus strebenden Wünschen, daß es die Leute lebenslang auch nicht einmal in das dicht angrenzende Nachbarland hinübertreibt. - Hier erinnert ein chinesischer Ausleger, welchen Gegensatz diese idyllische Schilderung bilde zu dem unruhigen, leidenschaftlichen, kriegerischen Treiben damaliger Landesfürsten, bei dem die Völker vernachlässigt wurden, litten, verarmten und in Unordnung und Zügellosigkeit verdarben.
 
 
 

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