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Einatmen – Ausatmen. Nehmen – Abgeben. Warum ist es so schwer?


Die Straßen sind dunkel. Gestern, in der Nacht, hat es noch geregnet und jetzt, am Sonntagmorgen sind die Pfützen von einer dünnen Eisschicht bedeckt. Ich laufe am Gefängnis entlang, hoch zum Friedhof, dann einmal rechts an der Bäckerei vorbei - es ist noch sehr früh, wenigstens für einen Sonntag und nicht einmal der warme Duft der Brötchen liegt in der frostigen Januarluft - und schon stehe ich vor dem dunklen Haus von Frau Z.. Nirgendwo brennt Licht. Und ich trete in den dunklen Hausflur ein.

Früher schellte ich immer noch dreimal, ein Zeichen, daß kein Fremder kommt, aber ich habe es mir abgewöhnt. Mein Kommen und Gehen ist Gewohnheit geworden. Ich taste mich durch den Hausflur, traue mich nicht, Licht an zu machen. Es ist eines dieser alten Häuser, in denen man die Wohnungsklingeln nicht von den Lichtknöpfen unterscheiden kann. Zwar weiß ich: »es der rechte Druckknopf, direkt zwischen den beiden ersten Türen«, und mit seiner Betätigung würde das Treppenhaus in das fahle Licht getaucht, aber irgend etwas sperrt sich in mir und ich kenne meinen Weg. Oben angekommen schließe ich die Tür zur Wohnung von Frau Z. auf und trete ein.

Es ist eine schöne Wohnung. Man betritt nicht so einen Flur, der nur als Verbindungsschlauch dient, sondern fast einen Raum, der den Mittelpunkt zu den übrigen Zimmern herstellt. Die Tapeten sind vergilbt, obwohl ich das nicht so genau sagen kann, es sind alte Tapeten und vielleicht müssen sie diese seltsame Farbe haben. Wände, kleine Tischchen, zerbrechlich wirkende Regale, überall hängen oder stehen kleine Skulpturen von nackten Frauen, Gesichter aus Stein gehauen, die erschreckend auf den Eintretenden niederglotzen. Der Mann war Künstler. Eine Wohnung voller Erinnerungen.

Im Flur brennt ein kleines Notlicht. Ich hänge meine Jacke an der Garderobe auf, gehe leise ins Schlafzimmer. Meine Augen versuchen in dem fahlen Licht etwas zu erkennen, erahnen Schatten, dann kann ich den Körper ausmachen, der irgendwo in den Decken gehüllt liegt. Ich lausche, höre das schnelle leise Atemgeräusch. Der Körper vor mir im Bett lebt noch, Trude ist noch da. Auf dem Fußboden liegt der kleine Wecker. Eine Schublade vom Nachttisch ist aufgezogen und völlig zerwühlt. Oben auf dem Nachttisch steht neben einer Parfümflasche und einer Tube mit Bodylotion ein kleiner Tonengel. Er spielt eine Harfe und sein Mund ist zu einem lauten Jauchzen und Frohlocken geöffnet. Vor der Figur steht ein Teelicht, dessen Flamme im Luftzug der Wohnung – irgendwo muß ein Fenster offen sein – seinen Schatten auf dem Nachttischdeckchen umhertanzen läßt. Ich knie mich auf den Boden, suche eine Hand, finde sie. Sie ist warm.

»Trude«, meine leise Stimme wird gehört. Ein paar Augen erfassen mich und ich werde erkannt. »Bernd, schön daß du da bist«. »Wie war die Nacht« frage ich und wie immer kommt die Beschreibung einer schlechten Nacht. Unruhe, Angst, Hilflosigkeit. »Diese Windeln sind einfach zu groß, ich kann mich nicht drehen«. »Willst du aufstehen« frage ich und bekomme ein »Ja«.

Ich schlage die Decke zurück, die warme, abgestandene Körperluft quillt mir entgegen. Es riecht streng nach altem Urin und Kot. Trude sitzt. Schaut sich um. Ihr Blick geht zum Nachttisch. Erschrecken spiegelt sich in ihrem Gesicht. Woher oder besser was soll diese Kerze? Was der Engel davor? Sie wendet sich ab, sieht mich an. »War der Herr aus dem Erdgeschoß, der dich Nachts betreut heute da« frage ich? Trude beginnt sich zu erinnern, sie schaut noch einmal verwundert zu dem kleinen Altar, dann helfe ich ihr in die Höhe. Langsam schaukeln wir zum Badezimmer, die Beine sind schwer und aufgequollen, die Füße passen nicht mehr richtig in die großen Hausschuhe.

Das Waschen strengt an. Nach einer halben Stunde sitzt Trude erschöpft in ihrem Sessel und schläft. Ich bereite in der Küche das Frühstück vor. Sie hat mich vor ein paar Wochen, als es ihr noch besser ging, angeleitet und nun leitet mich eine langweilige Monotonie, deren Arbeitsgänge fast den ihren entsprechen. Brötchen feucht machen, aufschneiden und auf den Toaster legen. Kaffee, drei Löffel auf die große Kanne, in den Filter. Umständlich lasse ich das kochende Wasser sich aus dem Boiler auf den Kaffee ergießen, vier mal, dann ist die Kanne voll. Butter und Marmelade sind im Schrank, Wurst, Kaffeesahne, Käse im Kühlschrank. Alles auf ein Tablett, Brötchen auf einen Teller. Ich baue das Frühstück vor Trude auf einem Servierwagen auf.

Der Kaffeeduft weckt sie aus dem leichten Schlaf. Ich schenke ihr eine Tasse ein, die Kanne ist voll zu schwer. Sie schüttet etwas Milch zu, rührt um. Ihre Finger umgreifen den Henkel, ihre Augen schließen sich, gehen wieder auf, die Tasse wandert zum Mund, sie trinkt. Der Kaffee ist kalt. Sie schaut mich verwundert an. Dann begreift sie: »ich schlafe immer ein, ich bin so müde, ich merke gar nicht wie die Zeit vergeht«.

Aber die Zeit vergeht. Immer weiter, stetig. Ich sitze wieder an ihrem Bett, eine Woche später. Ihr Zustand ist mal schlechter, dann wieder besser. Ihre Beine werden von Zeit zu Zeit dicker, dann nimmt die Schwellung wieder ab. Der Urin ist dunkler geworden, kein gutes Zeichen, der Blutdruck ist manchmal sehr niedrig, der Schwindel am Tag oft stärker. Auch keine guten Zeichen, wie auch die schnelle Atmung – sie atmet durch den aufgerissenen Mund, zieht die Nasenflügel weit auseinander, wenn sie einatmet – kein gutes Zeichen ist. Aber auch die immer größer werdende Summe der schlechten Zeichen bewirkt nichts. Trude lebt.

Jede Falte der Kleidung gräbt sich tief in die ödematöse Haut, jeder leichte Druck hinterläßt eine tiefe Beule. Die Hände und Füße sind kalt, das Gesicht auch. Die Haut zeigt leichte Läsionen im analen Bereich. Es brennt m Liegen und im Sitzen. Nicht immer, aber oft. Etwas lindern hilft eine fettige Paste mit Lebertran, aber die Wunde heilt nicht. Die Haut ist zu verquollen. Was hindert einen Menschen eigentlich am Sterben? Ich weiß es nicht.

Es ist Nacht und ich liege in meinem Bett. Es ist schon spät, aber ich kann noch nicht schlafen. Ich begreife nicht, warum Trude noch lebt. Was bewegt sie, warum läßt sie nicht ihr Leben los, oder ist es gar nicht so einfach? Kann man doch nicht sein Ende so leicht bestimmen, wie ich es immer denke? Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf meine Atmung. Einatmen – Ausatmen. Aufnehmen und abgeben. Nur wenn ich loslasse, dann kann ich wieder einatmen. Und wenn ich eingeatmet habe, dann kann ich wieder loslassen. Ein angenehmes Gefühl, ein beruhigendes Gleichgewicht. Nehmen, geben.

Ich weiß nicht wie lange ich schon so liege, wieviel Atemzüge vorbei sind, aber plötzlich merke ich – ich möchte wissen, warum Trude nicht gehen kann - wie meine Beine kälter werden. Kalt, schwer, gefühllos. Ich kann sie noch bewegen, aber nein, ich will es nicht. Das Gefühl der Erstarrung steigt höher, meine Hände werden schwer, dann meine Unterarme, weiter hoch, bis zu den Schultern. Ich liege reglos. Kalt. Entspannt. Keine Angst. Nein, ich will weiter, noch ein kleines Stück. Plötzlich richtet sich mein Körper auf, wenigstens habe ich das Gefühl, ich sitze. Dann kippe ich nach vorne über, stürze hinunter in eine endlose Tiefe. Ich falle. Weiter.

Meine Konzentration ist voll da, es ist anfangs schwer, nicht das Gefühl einer Furcht zu entwickeln, denn diese reißt zurück. Doch ich verliere immer mehr das Gefühl für meinen echten Körper, werde immer mehr nur noch der, der da fällt. Und es ist mit einem Mal nur noch angenehm. Schneller geht es weiter, aber da ist eigentlich nichts, woran ich es festmachen kann. Dann – auf einmal – Stille, keine Bewegung. Ich schwebe. Irgendwo, weiß nicht, was es ist, es gibt kein Oben oder Unten. Alles ist gleich, keine Unterschiede mehr. Wenn ich mich leicht an meinen Körper im Bett erinnere, dann merke ich einen Windhauch, der mich zieht, der bewegt, aber ich unterdrücke den Gedanken, atmen, loslassen, Ruhe. Ein Gefühl sagt mir, daß ich hier, wo ich jetzt bin,  nicht immer bleiben kann oder werde. Etwas muß geschehen. Und dieser Druck wird stärker. Es ist etwas Komisches.

Zuerst ein Gefühl, das durchaus angenehm ist, es ist wie ein Hängen im Nichts, alles ist unwichtig, ist ohne Grund. Aber irgendwie sind es meine Gedanken nicht gewohnt, nicht da zu sein und so kommen nach und nach Bilder auf. Anfangs kann ich es verhindern, nicht durch Gewalt, einfach durch Nichtweiterverfolgen. Da ist etwas, und das ist für sich in Ordnung, hat allerdings keine Bedeutung für mich. Ich bleibe im Zustand der Schwebe. Dann beginne ich plötzlich weiter zu fallen, ich merke es geht weg von meinem Körper, und mit dem Gedanken: »weg von meinem Körper« bleibe ich stehen, dann wieder weiter und erneut stop. Ich atme wieder, werde nur Atmung, lasse noch einmal alle Gedanken an meinen Körper fort, aber es wird anstrengender und Anstrengung reißt immer wieder zurück, aber es gelingt und ich gleite irgendwohin.

Stimmen. Ich höre etwas. Nicht so wie man hört, aber da ist etwas. Vielleicht einfach Ströme? Impulse, Gedanken. Ein Bild erscheint. Da ist eine Öffnung in dem Schwarz, das mich umgibt, ein kleiner Spalt der aufgerissen wird, da sind Finger, die reißen, da müssen, ich würde sagen: Menschen sein. Sie wollen zu mir. Aber irgend etwas hindert. Woher die Frage kommt, weiß ich nicht. Aber plötzlich ist sowohl die Frage als auch die Antwort da. Die Frage, wohin SIE wollen und die Antwort, nimm uns mit in deinen Körper. Ich halte weiter den Spalt zu, wodurch und wie weiß ich nicht, nur daß ich die Ursache bin. Irgend etwas überlegt in mir. Sie wollen in deinen Körper. Ich erkenne, meine es wenigstens, die Absicht. Und vor mir taucht ein sicheres und kämpferisches NEIN auf. Der Spalt schließt sich, ist weg und ich verliere die Kontrolle über das Nichtmehrdenken. Ich rase zurück, ein komisches Gefühl, ich habe die Kontrolle verloren oder wieder gewonnen, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Ich sitze plötzlich wieder in meinem Bett, dann liege ich in meinem Körper.

Es ist kalt. Kein Gefühl in den Armen und Beinen. Ich wiederhole mein »Nein« und mit diesem Wort beginnt eine Wärme durch meinen Körper zu strömen. Fließt wieder Leben durch meine Adern. Ich liege wach im Bett. Alles ist ruhig, meine Atmung, meine Gedanken. Ich denke immer noch an Trude. Ob es ihr ähnlich geht? Was ist wenn der Spalt sich öffnet? Ihr Körper allerdings ist dann fort, wenn sie geht. Er ist ausgelebt. Aber was würde mit meinem geschehen? Ich weiß es noch nicht.

 


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