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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 6


 
 


Der Tal-Geist ist unsterblich
Er Heißt das tiefe Weibliche.

Des tiefen weiblichen Pforte,
Sie heißt des Himmels und der Erde Wurzel.

Je und je ist er wie daseiend,
in seinem Wirken mühelos.
 
 



 

Der Philosoph Lieh-Tse führt dieses Kapitel ebenfalls an, und zwar mit den Worten: »Huang ti schu yueh...« - » Huang-Tsi Buch sagt...«. Ihm muss also ein Buch unter diesem Titel vor-gelegen haben, älter als das Tao-te-King ist und auch von Lao-Tse als Quelle benutzt wurde.

Bekanntlich führen die Taoisten den Ursprung ihrer Lehre auf den sagenhaften Kaiser Huang-Ti (2967-2597 v. Chr.) zurück. Daß der Ausdruck:.»Tal-Geist« sich im allgemeinen auf Tao bezieht, ist nicht zu bezweifeln; doch soll etwas Besonderes, eben das tiefe Weibliche, damit angedeutet werden. Da das Schriftzeichen für »Tal« auch einen fortgeleiteten Quell, dann Strombett, ernährend bedeuten kann, ist Tal-Geist demnach der »ausfließende Geist«, der aufnehmend-gebärende und nährende Geist, dem Prinzip des weiblich ruhenden Yin entspre-chend. Er – oder besser Sie – wird als die bezeichnet, die »nicht stirbt« und in bleibender Le-bendigkeit unsichtbar da ist, während alle Wesen aus der Unsichtbarkeit in die Sichtbarkeit herausgebracht werden und durch das Sterben in die Unsichtbarkeit zurück gehen müssen.

Der unsterblich ausfließende Geist heißt oder ist das »tiefe oder mystische Weibliche«. Dies zeigt, daß wir unter ihm/ihr das zu denken haben, was wir bereits zu Kap. 1 als »das Weibli-che« im Tao annehmen mußten, vermöge dessen es aller Dinge Mutter werden konnte.

Sind nach Kap. 1 die beiden Potenzen des Tao in ihrer Einheit alles Herrlichen und Geistigen Pforte oder Ausgang, so ist zu schließen, dass von ihnen auch der unsterbliche Tal-Geist die-ses »Ewig-Weibliche« ausgegangen und stetig ausgeht. Nun wird hier diesem ausfließendem Geist selbst wieder eine Pforte, ein Ausgang zugeschrieben, welche die Wurzel des Himmels und der Erde genannt wird, während der Urgrund oder Anfang dieser ersten Naturmächte im ersten Kapitel (Kap. 1) das unnennbare Urwesen ist.

Dies weist dem ausfließendem Geist, dem Tiefweiblichen, ein doppeltes Verhältnis zu, in welchem es jedes Mal als vermittelnde Potenz auftritt. Es ist erstens das, wodurch die erste oder Urpotenz jede Grundlagen der Welt ausgehen läßt, und zweitens das, wodurch die zweite Potenz Mutter aller Wesen wird. Es scheint der letzteren besonders zugehörig und gleichsam ein Bestandteil ihres Wesens zu sein. Es ist ferner erstens Geist und hat daher nach Kap. 39 die Selbsteinheit, die ihr Verstand, Intelligenz gibt und ohne welche es vergehen würde, also nicht unsterblich sein könnte, und ist auch nach Kap. 21 in Tao und Taos Geist. Es ist zwei-tens das Weibliche, das ist das Empfangende, Ausgestaltende, nach außen Setzende. Daraus ergibt sich, daß dieser Geist Taos als dritte Potenz in dem ewigen Urwesen gedacht wird, wel-che von den beiden ersten lebendig ausfließt, dass in ihn aber zugleich hineingelegt wird, was die okzidentalische theosophische Spekulation als Weisheit, Idee oder Magia substantiiert hat.

Je und je wie ein stetig fortlaufender Seidenfaden, unaufhörlich, immerwährend ist der aus-fließende Geist des Tiefweiblichen »wie da seiend«, welches letztere mit denselben Worten (Kap. 4) von Tao gesagt war, in dieser Hinsicht ihn also Tao gleichstellt. Und dieser ewige Geist der auch die Fülle der Idealwelt einschließt, braucht für das von ihm stetig ausquellende Gute keine Anstrengung, um die Wesen zu nähren; der (weibliche) Geist wirkt spontan. Da er darin selbst gegenwärtig, wie da seiend, ist, so könnte diese Stelle auch bedeuten, daß es für den Menschen keiner Anstrengung bedarf, ihn zu gebrauchen, sich seiner in dem von ihm ausfließendem Guten zu bedienen.
Die Ausleger beziehen alle Aussagen dieses Kapitels gerade hin auf Tao, ohne Rücksicht auf die Unterscheidungen an anderen Stellen. Ganz anders übersetzt „de Groot“ dieses schwierige Kapitel, der daraus eine Anleitung zur Atemtechnik und damit zur Versenkung und Verinner-lichung macht (s. Kap.: 10, 50, 52, 56).

Die Vieldeutigkeit des chinesischen Texts Iäßt diese Deutung zu. »Atemregulierung, Re-gungslosigkeit, Nicht-Tun, Nicht- Sprechen« führten später zu Versuchen der Lebensverlän-gerung. Dies widerspricht jedoch der Auffassung Lao-Tses (s. Kap. 75 - „...nur wer nichts um des Lebens willen tut, ist weise gegen den, der das Leben hochschätzt.)
 
 

 

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