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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 16


 
 

Wer der Entäußerung Gipfel erreicht hat,
bewahrt unerschütterliche Ruhe.
Alle Wesen miteinander treten hervor,
und ich sehe sie wieder zurückgehen.

Wenn die Wesen sich entwickelt haben,
kehrt jedes zurück in seinen Ursprung.

Zurückgekehrt in den Ursprung,
heißt: Ruhe.

Ruhe heißt: Zurückkehren zur Bestimmu
Zurückkehren zur Bestimmung, heißt: Ewig-sein.
Das Ewige erkennen, heißt: Erleuchtet-sein.

Das Ewige nicht erkennen, macht verderbt
und unglücklich.

Wer das Ewige erkennt, ist umfassend -
umfassend, daher gerecht, -
gerecht, daher kömglich, -
königlich, daher himmlisch, -
himmlisch, daher in Tao, -
in Tao, daher fortdauernd.

Er büßt den Körper ein ohne Gefahr.
 
 
 



 

Das Ende des vorigen Kapitels wies auf das Nichtgefülltsein, auf die innerliche Ablösung von der Welt, hin. Diese Befreiung ist aber nur möglich, wenn man innerlich wieder eingeht zu dem, von dem man ausgegangen ist, wenn man so sein Inneres gänzlich leer und ledig macht von allem Begehren, Wollen, Treiben und Tun dieser Welt (s. a. Kap. n, 12), auch von dem eigenen Selbst und der Begier nach Tao. Wer dieser Entäußerung Gipfel oder Leerheit Höchstes erreicht hat, behält für immer seine Ruhe. Leben und Tod haben ihm nichts mehr an.

Alles Werden, Entstehen und Hervortreten ist Streben und Bewegung, daher Unruhe. Alles Belebte teilt diese Unruhe, um sich zu erhalten und zu entfalten. Dies gelingt ihm bis zu einem gewissen Grade, von welchem ab es wieder zurückgeht. Nach seiner Blüte geht es als ein Entfaltetes und Entwickeltes wieder dorthin ein, von wo es als Unentfaltetes und Unentwickeltes ausgegangen war: zu seinem Ursprung, Anfang, der Wurzel seines Seins, zu Tao. Ist es dahin zurückgekehrt, dann endet die Unruhe der Bewegung, das Suchen nach Ruhe; denn diese ist erreicht.

Damit kehrt es zurück zu dem, das ihm seine Bestimmung, sein Los und Leben ursprünglich gegeben; das Wandelbare hört auf, das Unvergängliche und Unwandelbare, das Ewige ist erreicht. Das belebende Prinzip jedes Wesens ist also ein fortdauerndes, das für die Zeit und zum Zweck seiner Selbstentfaltung an der sinnlichen Natur in diese hineintritt, nach Erfüllung seiner Bestimmung aber wieder zurückkehrt, von wo es ausgegangen war, um dort ewig zu sein. Wer nun das Ewige kennt, d. h. alles Werden, Tun und Verhalten dadurch bedingt und darauf bezogen erkennt, der heißt erleuchtet (Licht habend und ausstrahlend, s. a. Kap. 55). Alle, die diese Erkenntnis nicht haben, geraten in sittliche Verderbnis und werden elend.

Die Erkenntnis des Ewigen macht den geistigsittlichen Menschen umfassend; er umschließt alle Wesen mit gleichausgeteiltem Wohlwollen. Wer mit gleicher Teilnahme alle umfaßt, wird jedem auch zugestehen und zuteilen, was ihm zukommt, d. h. er wird gegen alle gerecht (wörtlich: alle, gleichmäßig, billig, uneigennützig...) sein und allen gerecht werden. Ein derart Gerechter ist königlicher Art; denn das ist das echte Wesen eines Königs, des Mittlers zwischen Himmel und Erde. So waren die großen Könige des Altertums (s. Kap. 17). Ist er in diesem Sinn König, dann ist er auch, wie es wörtlich heißt, «Himmel», d. h. er hat mehr als die Kaiserwürde (genannt: des «Himmels Auftrag »), er hat Wesen und Art des Himmels, welcher hier als weltregierende Macht - zwar Tao untergeordnet, aber nicht von ihm gesondert - und als Mittler zwischen Tao und Welt anzusehen ist. Darum ist der das Ewige erkennende, umfassende, allgerechte, königliche Mensch, welcher «Himmel» sei, damit «Tao». Wer aber in Tao ist, d. h. eins mit Tao ist oder Tao hat, der ist dauernd, hat Tao’s Dauer und damit selbst Ewigkeit.

Dieses ewige Fortdauern, die persönliche Fortdauer nach dem Tode, das, was wir ewiges Leben nennen, hängt mit dem obigen Ewig-Sein infolge Rückkehr zur ursprünglichen Bestimmung und mit dem Erkennen desselben zusammen. Wer so das ewige Leben in Tao hat, dauert nach Einbuße des Körpers fort; sein Leben ist außer Gefahr, auch wenn sein Körper untergeht, d. h. sein Ich, seine Persönlichkeit in Tao bleibt (s. a. Kap. 13, 33, 50, 52).
 
 

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