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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 22



Was krumm, werde vollkommen,
Was ungleich, werde gerade,
Was vertieft, werde gefüllt,
Was zerrissen, werde neu,
Wenn wenig, werde erreicht,
Wenn viel, werde verfehlt.

Daher:
Der heilige Mensch umfaßt das Eine
und wird der Welt Vorbild.

Nicht sich sieht er an,
darum leuchtet er.

Nicht sich ist er recht,
darum zeichnet er sich aus.

Nicht sich rühmt er,
darum hat er Verdienst.

Nicht sich erhebt er,
darum ragt er hervor. -

Weil er nicht streitet,
darum kann keiner in der Welt mit ihm streiten.
Was die Alten sagten:

«Was krumm, werde vollkommen»,
sind es denn leere Worte?

Ein wahrhaft Vollkommener,
und man kehrt dahin zurück.
 
 



 
 

Die Sprüche, am Ende des Kapitels auf «die Alten» zurückgeführt, müssen als Zitat aus einem älteren Buch angesehen werden. Sie haben im Chinesischen eine unvergleichliche Kürze, da es dort wörtlich heißt: «Krumm, dann vollkommen; ungleich, dann gerade» usw. Wer die Wandlung herbeiführen werde, deutet das Ende des Kapitels an. Orakelhaft wie die ersten vier Sprüche sind auch die beiden folgenden.

Das Wenige und Viele muß sich auf die Mittel zu ihrer Herstellung beziehen. Hierzu genügt wenig, ja nur eins. Wer es mit vielerlei und auf vielerlei Weise erreichen will, liefert nur den Beweis, daß er das eine, worauf es ankommt, nicht kennt, und muß seinen Zweck notwendig verfehlen. So auch unsere Lehre, die unserer Zeit, welche ihren Gebrechen durch hundert Mittel abhelfen will, in einer späteren Epoche und doch in gleichem Geist sagte, eins sei not. Die ersten drei Sprüche haben eine bedeutsame Ähnlichkeit mit Jes. 40, 4. Die in Aussicht gestellten, geheilten Zustände herzustellen, ist das Trachten des heiligen Menschen, der weiß, daß er dies mit «vielem» nur verfehlen würde. Daher umfaßt er das Eine, von welchem im vorigen Kapitel die Rede war, die Ursache von allem und so auch die Ursache aller Vollendung, aller Heilung krankhafter und ungenügender Zustände. Indem der Heilige es (Tao) in sich aufnimmt, wird er dadurch Maß, Gesetz, Vorbild für die Welt, nicht durch Lehre und Werke, sondern durch sein bloßes Sein und seinen Wandel. Bei ihm ereignet sich dann, daß er das, wonach die meisten mit Anstrengung vergebens streben, erreicht, indem er darauf verzichtet; eben dadurch erreicht er es, daß er darauf verzichtet.

Indem er weder hervorleuchten will, weder Verdienst noch Autorität sucht, fällt ihm dies alles von selbst zu durch seine Demut, seine Sanftmut. Selbst wer mit ihm streiten wollte, kann es nicht; denn er macht keinem etwas streitig, und tut man ihm Unrecht, so vergilt er Beleidigung mit Wohltun (Kap. 63) und widersteht nicht dem Übel.  («Nicht sich selbst recht» meint: hat an sich selbst kein Gefallen.)

Die Beantwortung der Frage erfolgt indirekt, in bezug auf die Herstellung des Vollkommnen. Nur die Erscheinung des wahrhaft vollkommnen Menschen kann das Unvollkommne vollkommnen,  das Krumme gerade machen, das Versunkene heben, das Verdorbene erneuern, und dazu bedarf es  nicht vieler Mittel, sondern nur eines einzigen.  Dies ist eine Verheißung des Altertums, zu erfüllen durch den Heiligen, dem Vorbild in Zurückhaltung, Demut und Sanftmut. So ist der Sinn des letzten Satzes: «Der wahrhaft Vollkommne wird erscheinen, und dann wird die Welt zurückkehren zum vollkommnen Wesen.»
 

 
 


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