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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 32



Tao, das Ewige, hat keinen Namen.
So zart seine Einfalt auch ist,
so wagt doch die ganze Welt nicht,
sie dienstbar zu machen.

Wenn Fürsten und Könige sie zu halten vermögen,
werden alle Wesen von selbst huldigen,
Himmel und Erde sich vereinigen,
erquickenden Tau herabzusenken.

Das Volk, niemand gebietet ihm,
wird von selbst rechtschaffen.

Wenn es anfängt zu schaffen, hat es einen Namen.
Ist der Name bereits da, so soll man auch
anzuhalten wissen.

Wer anzuhalten weiß, ist dadurch außer Gefahr.
Ähnlich ist Taos Sein in der Welt,
wie Bäche und Flüsse, die zu Strömen
und Meeren werden.
 



 

In diesem Kapitel wird wieder das Zentrum der ganzen Erörterungen in den Vordergrund gebracht, während zugleich der bisher behandelte Stoff weiterentwickelt wird. Denn war gesagt worden, das Reich als geistiges Gefäß sei mit Tao zu leiten, nicht mit Waffen zu zwingen, so soll nun dargelegt werden, wie mit Tao der Reichszweck ohne Gewalt erreicht werde. Deshalb wird zunächst auf Tao als das Absolute zurückgegangen, auf das Eine, das da ist und ewig ist, vor und über seinem Tao-Sein (vergleiche Kapitel l). Insofern ist es ohne Namen und das Ewige genannt; doch auch nach seiner Ursprünglichkeit und in seiner ersten Wesenheit, seiner «Einfältigkeit» (siehe Kapitel 28), umfaßt und durchdringt es fortdauernd alles. Diese seine Einfalt, das, was es gleichsam zuerst von Natur ist, ist zwar zart (klein, fein, wenig); allein, in dieser verschwindenden und unerfaßlichen Zartheit ist sie dennoch Weltgrund und Weltursache; sie bestimmte sich dazu, die Welt zu setzen, und ist daher so gewaltig und erhaben, daß die ganze Welt sich nicht herausnimmt, sich über sie oder gegen sie zu erheben und sie zu unterwerfen oder untertänig zu machen.

«Fürsten» bezeichnete im damaligen China die zweite Rangklasse der Reichsfürsten, steht jedoch hier in weiterem Sinn für alle, welche unter dem Kaiser, der während der Tschou-Dynastie sich «König» nannte, regierten. Wenn sich die Regenten in der Einheit mit dem Absoluten in seiner ursprünglichen Einfachheit zu erhalten und zu erweisen vermöchten, dann würden sie eine ebenso unmerkbare, aber unwiderstehliche Macht ausüben; alles würde ihnen huldigen, ihnen in freudiger Ergebenheit, gleichsam gastlich von selbst, ohne äußerliche Nötigung, entgegenkommen; sogar die Weltmächte Himmel und Erde würden es freudig erkennen und Segen über die Lande ergießen; und die Regierten, von der überwältigenden Macht dieser Erscheinung erfaßt und fortgezogen, würden ohne Verbote und Zwangsbefehle der Oberen von selbst, freiwillig, rechtschaffen sein und handeln. So wäre alles in einfacher, natürlicher Harmonie, durch Tao.

Hatte Lao-Tse oben den absoluten Grund des Tao genannt, so mußte er doch diesen Namen sofort wieder zurücknehmen (hat nicht Namen); doch ist das Namenlose des Himmels und der Erde Urgrund, «Anfang»; fängt es an zu schaffen, hat es einen Namen, Tao. «Schaffen» heißt ursprünglich «ausschneiden, zuschneiden, aushauen», ähnlich dem hebräischen Wort «bara, Gen. I, I» und den altbaktrischen Wörtern für Erschaffen. In all diesen Sprachen scheint die Wortbezeichnung von dem Abscheiden und Setzen der Begrenzung (im Mythos aus dem Chaos) ausgegangen zu sein. Weil nun der Name da ist, d.h. das Unerkennbare sich erkennbar, das Unnennbare sich nennbar gemacht und das Überseiende ein Seiendes und in der Welt Seiendes geworden, so soll man auch wissen, anzuhalten, stehen zubleiben bei ihm, dem Namenhabenden, das sich als Tao manifestiert; man soll nicht in die Tiefen des Namenlosen einzudringen versuchen. Denn darin liegt eine Gefahr, der man entgeht, wenn man dort anzuhalten weiß. Taos »Sein« in der Welt aber ist an seinen Werken und Schickungen und seinem sittlichen Wirken in den Menschen erkennbar und faßlich, und es gleicht dem Ausquellen und Fließen der Flüsse und Bäche. Wie diese allmählich zu Strömen und Meeren werden, so wird der, welcher Tao zu erkennen sucht und sich an das Erkennbare und Faßliche hält, dasselbe zu einem immer größeren Ganzen zusammenfließen sehen.
 
 
 

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