[Home]  [Einleitung]  [Lao Tse]  [1. Buch ]  [2. Buch ]


Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 1 - Kapitel 35




Wer das große Bild festhält,
Zu dem kommt alle Welt.
Sie kommt — da ist kein Weheklagen,
Nur Friede, Ruhe und Behagen.»

Bei Musik und Leckereien
steht der vorbeigehende Fremde still.
Geht Tao hervor vom Munde,
wie ungesalzen!, es hat nicht Geschmack.

Schaut man danach,
ist nicht genug zu sehen,
Horcht man danach,
ist nicht genug zu hören,
Braucht man es,
kann man kein Ende finden.
 
 


Das vorige Kapitel schloß damit, daß der Heilige sich nach Tao zu gestalten suche; dasselbe sagt das Verszitat: «Wer das große Bild» (Urbild, Vorbild), d. i. Tao, «festhält» (annimmt, bewahrt).

Die Menschen werden davon überwunden und  angezogen, wenden sich zu ihm und gehen zu ihm  über, weil er das leuchtende Abbild Taos ist  (Kap. 22). Kommt die Welt zu ihm, tritt sie in sein  sittliches Reich ein, so ist da keine «Verletzung»  oder Kränkung, sondern nur Ruhe, Friede,  Genüge (eigentlich «Weite», keine Einengung;  Gedeihen). Wenn also ein so Vollkommner, der  das große Vorbild bewahrt, erscheint, wird eine Umgestaltung der Welt, werden die glücklichsten Zustände erwartet (Kap. 22). Leider will niemand von dieser Segensquelle wissen.

Für sinnliche Reize sind die Menschen empfänglich. Auch der vorbeigehende Fremde, den es nichts angeht, verweilt und lauscht nicht ihm dargebotener Musik oder schaut auf nicht ihm dargebotene Leckereien. Geht dagegen Tao aus dem Munde hervor (nach anderer Lesart: aus den Worten, aus der Rede), so bleibt man nicht stehen, man wendet sich ab, findet es fade und geschmacklos, ist dafür unempfänglich. Auch Tao zu schauen und es zu vernehmen, genügt den Sinnesempfindungen nicht und ist es Sehens und Hörens nicht wert, weil es nicht wie Musik und Leckereien die Sinne reizt.

Mit den Schlußworten wird den abgeneigten Weltleuten schlagend geantwortet, als stände dazwischen: Ich aber sage euch. Wer Tao als solches Ur- und Vorbild festhält und braucht, der kann darin kein Ende finden; es ist unerschöpflich. So wird der Gegensatz zwischen der Vergänglichkeit irdischer, sinnlicher Genüsse und der Unvergänglichkeit dessen, was Tao gewährt, hervorgehoben und herausgestellt.
 

 

[Home]  [Einleitung]  [Lao Tse]  [1. Buch ]  [2. Buch



© baraka