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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 41




Hören Hochgebildete von Tao,
werden sie eifrig
und wandeln in ihm.

Hören Mittelgebildete von Tao,
bald behalten sie es,
bald verlieren sie es.

Hören Niedriggebildete von Tao,
verlachen sie es laut.

Lachten sie nicht,
so genügte es nicht,
um für Tao zu gelten.

Denn Sprichworte sind es:

Wer licht in Tao, ist wie voll Nacht,
Wer weit in Tao, wie rückgebracht,
Wer grade in Tao, wie ungeschlacht,
Wer hoch an Tugend, wie ein tiefes Tal,
Wer groß an Reinheit, wie ein schmutziges Mal,
Wer reich an Tugend, wie am Nötigen kahl,
Wer fest an Tugend, wie in Schwanken,
Wer echt an Glauben, wie in Wanken,

Ein groß Quadrat ohne Winkelflanken,
Ein groß Gefäß, das unfertig alt,
Ein großer Klang, der schwach erschallt.
Ein großes Bildnis ohne Gestalt.

Tao ist verborgen namenlos,
Doch in Verleihen und Vollenden
ist nur Tao groß.»
 


Obwohl für den Menschen alles darauf ankommt, daß er in die Einheit mit Tao, zu dem er auch zurückkehren soll, eintrete und sich in ihr erhalte, so findet die Lehre von Tao doch unter den Leuten eine sehr verschiedenartige Aufnahme.  «Gebildete» (eigentlich: einer unter zehn, also ein Ausgezeichneter, Weiser, Gelehrter, Ritter) bezeichnet hier Leute von hoher, mittlerer und niedriger Befähigung und Ausbildung, die demgemäß für gewöhnlich Staatsstellungen erhielten.

Die ersteren, die geistig Bedeutsamsten und Gewecktesten, die Weisen, hören sie von Tao, «mühen sich und wandeln in ihm». Leute der zweiten Stufe, zwischen Geistes- und Sinnenleben schwankend, werden von der hohen Lehre wohl getroffen, von ihrem Inhalt aber nicht durchdrungen; zuerst halten sie sich daran, dann aber können sie sich nicht entschließen, sich ganz dem hinzugeben, was den ganzen Menschen fordert; sie wollen ihren Teil an der Welt behalten, und darüber verlieren sie wiederum ihren Anteil an Tao, während es bei einigen jedoch auch Wurzel fassen und sie dann allmählich überwinden kann.

Denen endlich, die nur ein gebildetes Sinnenleben führen und somit auf der untersten Stufe der Bildung stehen, ist das Übersinnlich-Ewige geradezu lächerlich. Ihrem auf Materielles gerichteten Sinn erscheint es belustigend, daß man um etwas sorgen solle, was ihnen nicht einmal denkbar erscheint. Wenn sie deshalb Tao «sehr» verlachen, so ist das nur ein Beweis, daß ihnen wirklich das Übersinnliche und Überirdische verkündet worden ist; lachten sie nicht, so wäre das, was sie gehört, nicht genügend, um wirklich ihnen für Tao zu gelten.

Diesmal zeigt Lao-Tse ausdrücklich an, daß die Reimzeilen ein Zitat sind. Der allgemeine Gegenstand der Verse ist der Widerspruch zwischen der inwendigen Herrlichkeit des erleuchteten Menschen und seiner äußerlichen Erscheinung in der Welt, und das Zugeständnis, daß ewige Weisheit Torheit vor der Welt sei, weshalb diese sie auch verlacht. Wem Licht über Tao aufgegangen, wer im Licht Taos steht, dessen Geist konzentriert sich nach innen und nach oben; er kümmert sich wenig um die Dinge der Welt und hat einen anderen Maßstab für sie als die Weltmenschen, denen er deshalb wie «verfinstert» erscheint, als fehle es ihm an der richtigen Einsicht und Schätzung derselben. Sein «Fortschreiten in Tao» ist in ihren Augen daher wie ein «Rückschreiten»; denn je weiter er darin gelangt, desto gleichgültiger zeigt er sich gegen ihre höchsten Anliegen; und je mehr er «gerade in Tao», Tao gleichartig, ebenmäßig, ist, desto mehr erscheint er ihnen wie «gemein, gewöhnlich»; denn was vor der Welt groß, hervorragend und glänzend, gewählt oder fein erscheint, sucht er nicht, verschmäht es vielmehr.

Ist er «hoch an Tugend», so erscheint er der Welt niedrig wie ein Tal, weil auch Demut, Bescheidenheit, Verbergen seiner sittlichen Schätze, zu seiner Tugend gehört. «Groß an Reinheit», an sittlicher Lauterkeit, verschmäht er allen bloßen Schein Und alles, was ihm äußerliche Ehren verschaffen könnte, daher er den Weltmenschen wie «schimpflich, schmachvoll. vorkommt. Und wie «reich an Tugend» er sei, sie werden ihn wie «nicht genügend» ansehen, weil ihm das fehlt, was sie für das Vorzügliche, ja Nötige halten. Ist er «festgestellt, aufgerichtet an Tugend», so ist er ihnen wie «schlaff, gedankenlos, unentschlossen», wie einer, der nicht weiß, was er will, da er alle die Mittel nicht benutzt, die ihm Vorteil verschaffen könnten, und überall Bedenken hat, die sie nicht verstehen. Ist er endlich «echt», bewährt an Glauben oder Treue, so muß er ihnen dennoch wie «wandelbar» erscheinen, wie unzuverlässig, da sie auch an ihn den Maßstab gesellschaftlicher Heuchelei legen und ihm deshalb am wenigsten trauen, wenn und weil er ganz aufrichtig ist.

Ein so erleuchteter tugendfester Mann ist ein «großes Rechteck », d.h. alle Seiten sind bei ihm wohl und recht bemessen, und es folgt daraus, daß sie auch in entsprechenden Winkeln zusammentreffen; dafür hat die Welt keine Augen, ihr erscheint er als ein großes Rechteck «ohne Winkel», mithin als etwas, das sich selbst widerspricht.

In Wahrheit ist er ein «großes Gefäß», d.i. recht eigentlich und im höchsten Sinn brauchbar; aber die Welt nach ihrem Sinn kann es nicht brauchen, für sie ist es «zu spät fertig», d.h. nie eigentlich fertig; sie weiß nichts mit ihm anzufangen. Hätte sie nur aufgeschlossene Sinne für ihn! Denn er ist wirklich ein «großer Klang», eine mächtige Stimme, die sie aus ihrem Sinnentraum aufwecken könnte; aber sie hat kein Ohr dafür, ihr ist sie von «wenigem Ton», leer an Ton. Er ist wirklich ein «großes Bild», ihr hingestellt, um daran zu sehen, wie sie sein sollte und wie sie nicht ist; sie aber hat kein Auge dafür, ihr scheint es formlos, «ohne Gestalt».

So wird der in Tao Wandelnde gesehen, aber nicht geschaut, gehört, aber nicht vernommen, er ist greifbar, wird aber nicht gefaßt (während man nach Tao selbst schauen, horchen und fassen mag, es aber nicht sieht, hört, greift).

Warum jener Widerspruch zwischen dem Wesen des heiligen Menschen und seiner Erscheinung und Beurteilung bei der Welt? Weil das, was sein Wesen bestimmt, weil Tao verborgen, nach diesem seinem Wesen unnennbar dem bloßen Sinnenmenschen sich entzieht und ihm auch nicht zu vermitteln ist. Doch Tao «ist gut», ist fähig, weiß «zu verleihen», zu versorgen und auch «zu vollenden ».
 
 





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