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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 43



Der Welt Allerweichstes überwindet
der Welt Allerhärtestes.

Das Nicht-Seiende durchdringt
das Zwischenraumlose.

Daran erkenne ich den Wert des Nicht-Tun.

Die Lehre des Nicht-Sprechen,
den Wert des Nicht-Tun
erreichen wenige in der Welt.
 
 
 
 



 

Es folgt nun, was Lao-Tse aus den von ihm aufgenommenen Volkssprüchen geschlossen hat. Das Nachgiebigste, Weichste, zeigt sich mächtiger als (w.: «überrennt») das Härteste. Die Ausleger denken hierbei an das Wasser, von dem dasselbe im 78. Kapitel gesagt wird: sie verweisen darauf, daß es in Metall und Stein (steter Tropfen höhlt den Stein) eindringe oder daß es Hügel und Berge umstürze. Wie bei Stein und Fels, so auch bei dem Gewalttätigen und Starren, zeigt Tao sich nie hemmend und entgegenstemmend, nie beherrschend und Zwang übend, nie setzt es eigene Gewalt der Gewalt, eigene Härte der Härte entgegen; dem Natürlichen gegenüber ist das Übernatürliche, dem Seienden gegenüber das Überseiende das Allernachgiebigste, Biegsamste, allem Weichende. Aber ohne Gewalt und Härte weiß es den gewaltsamen Tod des Gewalttätigen und Harten herbeizuführen. Auf Kampf verzichtend, weiß es den Widersacher zu besiegen (vgl. Kap. 36, 76).

Das Nicht-Seiende ist Tao; es geht ein oder durchdringt das «Zwischenraumlose», das, was keine Zwischenräume hat, das Ungeteilte. So faßt es auch ein chinesischer Kommentar: «Tao durchdringt die Geister und alles Lebendige.» Denn jedes geistige und lebendige Prinzip, jede geschöpfliche Einheit ist für alles Seiende, was nicht es selbst ist oder nicht sich unterworfen und in sein eigenes Sein hineingezogen hat, undurchdringlich, weil es ein Ungeteiltes ist; es schließt aber nur aus, was wie es selbst ein Seiendes ist, nicht Tao, dem es einen Widerstand nicht entgegensetzen kann.

Tao wirkt dergestalt durch seine bloße Anwesenheit, ohne selbst zu handeln, mithin nichttuend, und das erweist den Vorteil, Gewinn, Wert des Nicht-Tuns. Denn das Tun findet Widerstand, setzt ihn sogar voraus, was beim Wirken durch bloße Kundgebung des Wesens nicht der Fall ist. In Wahrheit gewonnen wird daher nur durch das Nicht-Tun, nicht durch das Tun. Vom Tun gilt daher: wer es verliert oder darauf verzichtet, der gewinnt.

Lehre ohne Worte, schweigende Lehre, kann nur geben, wer durch sittliche Größe und Reinheit den Menschen zur Anschauung bringt, wie sie nicht sind und wie sie sein sollen und können. Nichts redet lauter als das stumme Beispiel. Dadurch wird eine unwiderstehliche sittliche Macht ausgeübt, welche zur Erreichung der sittlichen Zwecke alles Tuns überhebt, mithin den erwünschten Vorteil oder Gewinn bringt ohne Tun und den Wert des Nicht-Tuns erweist.

So zu lehren und zu gewinnen (oder: die Lehre und den Wert zu besitzen, in sich aufgenommen zu haben), setzt indessen eine solche Vollendung der Persönlichkeit voraus, daß nur wenige es dahin bringen.
 
 

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