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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 52



Die Welt hat einen Urgrund,
der wurde aller Wesen Mutter.

Hat man seine Mutter gefunden,
so erkennt man dadurch seine Kindschaft.

Hat man seine Kindschaft erkannt
und kehrt zu seiner Mutter zurück,
so ist man bei des Leibes Untergang ohne Gefahr.

Schließt man seine Ausgänge
und macht zu seine Pforten,
so ist man bei des Leibes Ende ohne Sorge.

Öffnet man seine Ausgänge
und fördert seine Geschäfte,
so ist man bei des Leibes Ende ohne Rettung.

Das Kleine sehen,
heißt erleuchtet sein,
das Weiche bewahren,
heißt stark sein.

Braucht man sein Leuchten
und kehrt zu seinem Licht zurück,
so verliert man nichts bei des Leibes Zerstörung.

Das heißt: in das Ewige eingehen.
 
 
 



 

Die große Weltursache, das ewige Tao, ist das Zweite, das offenbare Tao, dadurch geworden, daß es sich durch die Hervorbringung der Geschöpfe in ein mütterliches Verhältnis zu ihnen gesetzt (Kap. I), welches es dadurch bewährt, daß es sie erhält, vollendet, beschirmt (Kap. 51). Wer es nach diesem seinem Mutterverhältnis lebendig erfaßt, der erkennt auch sein eigenes Kindesverhältnis, in  welchem auch er zu seinem Schöpfer nur wieder zurückkehrt, der Tod für ihn also keine Gefahr hat. Hatte er sich gegen die Sinneswelt abgeschlossen und ins Inwendige zurückgezogen, so wird ihm sein Abscheiden kein Beschwer oder Sorge machen, während der, welcher seine Interessen in die Außenwelt verlegte und sie dort verfolgte, bei Leibesende nicht zu retten ist; denn er sah auf das, was vor der Welt groß und stark ist, und eben dies geht ihm unwiederbringlich verloren.

Wer aber erleuchtet ist, weil er auf das sieht, was der sinnlichen Betrachtung klein und gering erscheint, wer stark ist, weil er auf eigene Kraft und Festigkeit entsagt hat, der darf nur sein inneres, ihm von Tao zuströmendes, klares Leuchten brauchen und so zu dem zurückkehren, das sein Licht ist, so besitzt er das Unverlierbare, das ihm auch bei Zerfallen des Leibes nicht abhanden kommt. So verfahren, heißt, sich mit Ewigkeit bekleiden, in das Ewige eingehen.

Dies Kapitel handelt also nicht von der Gefahrlosigkeit, Mühelosigkeit, Rettungslosigkeit und Verlustlosigkeit des Menschen bei seinem Leben (laut anderer Übersetzung: «bis Leibesende»), sondern bei seinem Sterben; ein Gedanke, welcher vermittels Kap. 51 dann zur Erklärung der Hauptaussage von Kap. 50 wird, indem er zeigt, warum der, welcher das wahre Leben zu ergreifen weiß, gegenstandslos für den Tod ist.

Der Anfangssatz faßt den Inhalt des vorigen Kapitels bestätigend zusammen und ist gleichsam eine Folgerung daraus. Die Welt hat einen Urgrund, Anfang (das namenlose Tao); von diesem Verhältnis aus wurde er aller Wesen Mutter (das namenlose Tao). Durch das wesenhafte In-eins-sein Taos kommt man zu Erkenntnis und Verständnis der Tatsache, daß man Taos Kind ist und von ihm als solches behandelt wird. Wer sich in diesem Kindesverhältnis zu Tao weiß, das auch jetzt seine mütterliche Obsorge nicht von ihm abzieht, für den ist «der untergehende Leib keine Gefahr»; er weiß, daß der Tod ihn nicht gefährden kann, da er an sich selbst bleibt, was er ist.

Ausgänge und Pforten sind die körperlich-sinnlichen Vermittlungsorgane des Geistes. mit der Außenwelt (Komm. zu Kap. 6, 10, 50; Kap. 56, Zitat). Wer sie verschließt und zumacht, zieht sich ab von der Sinnlichkeit und dem Sinnenleben und gibt das bereits auf, wovon der Tod ihn scheidet; für ihn ist es daher keine Sorge, keine Anstrengung oder Beschwerde, zu sterben. (Nach anderer Auslegung ist es möglich, unter «Ausgang» nur den Mund, unter «Pforten» nur Augen und Ohren zu verstehen.)

Das entgegengesetzte Verfahren, das Ausgehen ins Sinnenleben und Hereinlassen der Außenwelt, um zu «fördern seine Geschäfte», um seine weltlichen Angelegenheiten zu betreiben, verlegt das wesentliche Interesse des Menschen in das, was er bei aufhörendem Leibesleben jedenfalls verliert. Wer das tut, ist beim Sterben «nicht zu retten»; denn mit dem, was er verliert, verliert er, was er zum größten Teil seines Selbst gemacht hat. Denselben Gedanken finden wir in Platons «Phädon».

Wer «das Kleine sieht», auf das Kleine schaut, wird «licht, klar, erleuchtet» genannt. «Klein» ist hier, was gegen alles irdische Große und Augenfällige, worauf jene weltlichen Anliegen gehen, als klein, zart und gering erscheint, von der Welt auch als gering angesehen wird, die Blicke des heiligen Menschen aber festhält und erleuchtet; denn im Kleinsten erscheint ihm das Größte. So auch in seiner «Weichheit», in dem nachgebenden Verzicht auf alle eigene Festigkeit, auf jeden Widerstand, hat er die größte Stärke. Nach dem Fortschritt der Gedanken muß auch beides sich auf das Verhalten beim Lebensende beziehen. Da verdient erleuchtet genannt zu werden, wer auf das Zarteste hinblickt, stark, wer ohne Widerstand sich hingibt.

Sein Leuchten ist der Urglanz, das ausstrahlende Licht, das der Mensch in dem mütterlichen Tao gefunden und durch das er seine Kindschaft erkannt hat; und es brauchen, heißt, sich mit ihm füllen, es sich aneignen und es anwenden. Das Zurückkehren zu seinem Licht, der Lichtquelle seiner Erleuchtung, ist das Zurückkehren zu seiner Mutter, zu Tao, ist der Wiedereingang des Menschen in seinen Ursprung und die Vollendung dessen, was ihn schon erleuchtete, daß er das «Kleine» davon erblickte. Dieser Übergang in Taos Lichtreich fällt mit der Zerstörung des Leibes zusammen; aber diese ist für ihn in keiner Weise ein, Verlust.

«In das Ewige eingehen» kann nach chinesischer Auslegung bedeuten: «Sich das ewige Tao aneignen»; doch ist wohl vornehmlich der Allgemeinbegriff «das Ewige» gemeint, demnach wörtlich: «das Ewige sich anziehen, annehmen oder üben», und, sofern es von dem Menschen «angezogen» ist, dessen Ewigsein und zugleich Besitz des Ewigseienden. So ist es: eingehen in das Ewige. Wer das Leben zu ergreifen weiß, verliert das Leibesleben, um das ewige Leben zu gewinnen. Im Schu King wie im Schih King beweisen zahlreiche Stellen, daß die Fortdauer des menschlichen Geistes nach dem Tode bei den alten Chinesen keinem Zweifel unterlag, und so ist auch Lao-Tses Begründung des Unsterblichkeitsgedankens durch die Kindschaft zu Tao zu verstehen.
 
 

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Der "Schu-king" ("Buch der Schrift"), ist von Konfutse, und eines der ältesten Werke der chinesischen Literatur, vielleicht sogar das älteste Werk der Welt, das alle wichtigen Ereignisse, die im Laufe der Jahrhunterte und Jahrtausende geschehen sind, erwähnt.
 
 

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