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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 54



Baut einer gut, wird nicht abgerissen.
Verwahrt einer gut, kommt nichts abhanden.

Der Söhne und Enkel Opfer und Ahnenkult
hören nicht auf.

«Er führt es bei sich selber ein,
Dann hat seine Tugend echt Gedeihen,

Er führt es ein in seinem Haus,
Dann fließt seine Tugend reichlich aus,

Er führt es ein in seinem Ort,
Dann wächst seine Tugend mächtig fort,

Er führt es ein in seinem Land,
Dann hat seine Tugend Blütenstand,

Er führt im ganzen Reich es ein,
Dann schließt seine Tugend alles ein.»

Darum:
An der Person prüft man die Personen,
an dem Haus prüft man die Häuser,
an dem Ort prüft man die Örter,
an dem Land prüft man die Länder,
an dem Reich prüft man das Reich.

Wodurch erkenne ich, daß das Reich so ist!
Durch dieses.
 
 


Auf die am Anfang des vorigen Kapitels stehende Einwendung war nachgewiesen, wie unbegründet die Meinung der Könige sei, sie wandelten in Tao. Sie brauchen daher seine Ausbreitung und Anwendung gar nicht zu fürchten, da diese, wie jetzt ausgeführt wird, vor allem einen festen Ausgangspunkt verlangt, der in der eigenen Person liegen muß. Erst was da wo wohlgegründet und wo wohlbewahrt ist, kann auch anderen zugute kommen und wird dann nach dem Maß der eigenen sittlichen Tüchtigkeit in immer weitere Kreise heraus- und fortgesetzt werden. Und da mit der Aufnahme Taos auch die durch dieselbe gewirkte «Tugend» sich fortpflanzt, so fällt auch der Vorwand, daß das Volk dann noch krumme Wege lieben werde.

In den ersten Sätzen vergleicht Lao-Tse die Einwurzlung Taos in den Herzen mit der Gründung einer Familie durch Familienhaus und Familiengut. Ist jenes zweckmäßig und dauerhaft errichtet, so wird es weder niedergerissen werden noch einstürzen; ist dieses wohl zusammengehalten und gesichert, so wird es weder geraubt noch abhanden kommen; so werden die künftigen Geschlechter sich beider dauernd erfreuen und nicht ablassen, den Ahnen, nach chinesischer Sitte, dankbar die üblichen Totenopfer darzubringen und ihre Verehrung zu bezeugen. Die Vergleichung ist durchsichtig und klar.

Die Verse haben den Charakter früherer Zitate. Ihr Subjekt ist stets dasselbe und dürfte, dem letzten Reim zufolge, der Kaiser sein; das Objekt ist unbestreitbar Tao, doch kann «es» sich zunächst allgemein auf das kurz zuvor Gesagte beziehen. Kultus und Kultur Taos muß in der eigenen Person, dem Selbst, beginnen; tut sie das, so erweist sich die Tugend dieser Person «echt, treu, wahrhaft». Je stärker, je umfassender dieser Erweis wird, desto größer werden nach und nach die Kreise (Familie, Ortschaft, Land, Reich), in welchen er Kultus und Kultur Taos übt und ordnet und eben damit jene seine wahre und echte Tugend ausbreitet, so daß in demselben Maße von einer Vorliebe des Volks für Abwege und Umwege nicht mehr die Rede sein kann.

Wenn die Verse sagten, wie die Wirkung des echten Tao-Verehrers (auf dem Thron) sich in immer weiteren Kreisen ausdehne, bis sie das ganze Reich (die Welt) umfasse, so soll nun anknüpfend an die einleitenden Worte für jeden gültig gesagt werden, wie und warum diese Wirkung zu erwarten sei. Wird das höchste Prinzip der Sittlichkeit an einer Person erkennbar, so kann keiner umhin, andere sowie sich selbst an diesem Maßstab zu prüfen, und es geht dadurch der Trieb in ihm auf, nicht allein selbst diesem Vorbild gleich zu werden, sondern auch bei anderen, soweit sein Wirkungskreis reicht, diese Gleichheit zu pflanzen. Auf solche Weise prüft sich und entzündet sich in dem Streben, Tao zu kultivieren und dadurch echte Tugend darzustellen, Person an Person, Haus an Haus, Ort an Ort, Land an Land.

Wenn es aber zuletzt heißt: «An dem Reich prüft man das Reich», so kann dies nur bedeuten: Ist das Reich (die Welt, nach chinesischem Begriff gab es nur ein Reich, das Reich der Mitte), dann kann es nur in dieser Beschaffenheit sich zum Maßstab dienen.

Soll das Reich an sich selber gemessen werden, dann fragt sich, ob es auch so sei, wie es zu diesem Zweck sein muß. Woran erkenne ich oder erkennen wir dies? «Durch dieses.» Gleiche Antwort fand sich am Schluß des 21. Kapitels und bezog sich dort auf Tao, von dessen Schöpfungsprozeß das ganze Kapitel geredet hatte. Analog ist das Subjekt hier die hohe Person, welche den Kult Taos zuerst in sich selbst begründet und dann fortschreitend über das Reich ausgedehnt. Daran also erkennt man die vorbildliche Beschaffenheit des Reichs, daß dieselbe echte Sittlichkeit in ihm ausgebreitet sei, wie sie in jener Person sich manifestiert. Da es hierbei vor allem um den sittlichen Zustand, «die Tugend» der obersten Reichsperson, sich handelt, so wendet sich Lao-Tse im folgenden zur positiven Darstellung derselben.

Das vorstehende Kapitel erinnert sehr an das von Khung-Tse herrührende erste Kapitel des Ta Hio.
 

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Anmerkung von BARAKA:
 

Das »Ta Hio« bedeutet »große Lehre« und ist von Khung-Tse oder einem der Schüler (5. oder 4. Jh. v. Chr.) geschrieben worden – so behauptet es wenigstens Tschu Hsi ein bedeutender Philosoph aus dem 12 Jahrhundert nach Christus. Die reine Struktur dieses Gesellschaftsaufbaus dürfte ursprünglich von dem bedeutenden Staatsmann und Staatsrechtphilosophen Kuan-Tse (7. Jh. v. Chr.) stammen. Der Text im Ta Hio lautet:
 
«Der großen Lehre Weg (tao)
besteht im Leuchten lichter Tugend,
besteht in der Liebe zum Volk (nach Tschu Hsi: in Erneuerung des Volks),
besteht im Feststehen im höchsten Guten.

Weiß man festzustehen,
dann hat man  Sicherheit;
Sicherheit,
dann ist man fähig zur Ruhe;
Ruhe,
dann ist man fähig zum Frieden;
Frieden,
dann ist man fähig zum Nachdenken;
Nachdenken,
dann ist man fähig zum Erlangen.

Die Dinge haben Wurzel (Grund)
und Zweige (Folgen).
Die Handlungen haben Ende
und Anfang.

Weiß man,
was vorangeht und nachfolgt,
ist man nahe dem Wege (tao).

Wünschten die Alten, im Reich (in der Welt) lichte Tugend zu leuchten,
ordneten sie zuvor ihr Land;
wünschten sie, ihr Land zu ordnen,
regelten sie zuvor ihr Haus;
wünschten sie, ihr Haus zu regeln,
veredelten sie zuvor ihre Person;
wünschten sie, ihre Person zu veredeln,
berichtigten sie zuvor ihr Herz;
wünschten sie, ihr Herz zu berichtigen,
läuterten sie zuvor ihre Gedanken;
wünschten sie, ihre Gedanken zu läutern,
vervollkommneten sie zuvor ihr Wissen;
vollkommnes Wissen besteht im Erforschen der Dinge.

Sind die Dinge erforscht,
dann wird das  Wissen vollkommen;
ist das Wissen vollkommen,
dann werden die Gedanken geläutert;
sind die Gedanken geläutert,
dann wird das Herz berichtigt;
ist das Herz berichtigt,
dann wird die Person veredelt;
ist die Person  veredelt,
dann wird das Haus geregelt;
ist das Haus geregelt,
dann wird das Land geordnet;
ist das Land geordnet,
dann wird im Reich (Welt) Frieden.

Vom Himmels-Sohn
bis zu den gewöhnlichen Menschen gilt eins,
daß alle die Veredlung der Person zur Wurzel machen...»
 
 



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