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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 55


Wer der Tugend Fülle in sich hat,
gleicht dem neugeborenen Kinde.
Giftiges Gewürm sticht es nicht,
reißende Tiere packen es nicht,
Raubvögel stoßen es nicht.

Seine Knochen sind schwach,
die Sehnen weich,
und doch greift es fest zu.

Es kennt noch nicht die Vereinigung
von Weib und Mann,
und doch steigt seine Zeugungskraft,
aus der Fülle des Samens.

Den ganzen Tag schreit es,
und doch wird die Kehle nicht heiser,
aus der Fülle des Einklangs.

«Den Einklang kennen, heißt Ewigkeit,
Das Ewige kennen, Erleuchtetheit;
Voll leben, heißt Unseligkeit,
Das Herz an Lebensodem binden, Kräftigkeit.
Was stark geworden ist, ergreist,
Und das ist, was man Tao-los heißt.
Was Tao-los ist, das endet früh.»
 
 



 
 

«Für den Höchstregierenden», sagte Lao-Tse, «kommt es vor allem darauf an, ob es mit seiner Person recht bestellt ist, ob er Tao in sich selber hat, und ob daher seine Tugend echt ist.» Wie er in diesem Fall beschaffen ist und sich verhält, sagen dieses und das nächste Kapitel. Die allgemeine Anwendung auf jeden ist dabei nicht ausgeschlossen. - Vollendete Tugend fällt nach LaoTse mit der Unschuld zusammen, nicht mit der unversuchten, sondern mit der in der Versuchung bewährten Unschuld, wie der Schluß des nächsten Kapitels zeigt. Deshalb vergleicht er den, der sie hat, ähnlich wie Kap. 10, mit dem eben geborenen Kind.

Nicht ist gemeint, daß Gefahren dem Kind nicht drohen könnten, sondern das Kind hält sie nicht für Gefahren, ihm ist giftiges Gewürm nicht giftig usw., und es entsetzt sich daher vor der Erscheinung der verderblichen Tiere nicht. Das dritte der Vergleichung liegt in dieser völligen Furchtlosigkeit. Ganz so sagte Kap. 50: der, welcher das wahre Leben zu erfassen gewußt, und das ist der vollendet Tugendliche, fürchte weder Nashorn, Tiger noch Kriegsheer. Die folgenden Verse zeigen, daß hier derselbe Grund dafür gelten soll wie dort; denn wer sein ewiges Sein von leiblicher Gefahr ungefährdet weiß, hat keine «sterbliche Stelle» und fühlt sein eigenes Selbst, in kindlicher Unbefangenheit und Ruhe, sicher vor jedem Angriff äußerer Feinde.

Das Zugreifen mit der Hand, bei aller Zartheit und Schwäche, dürfte das Gleichnis des Mannes von völliger Tugend sein, der ungeachtet seiner Sanftmut und seines weichen Gemüts seinen Vorsätzen beharrlich treu bleibt. Hinsichtlich «Zeugungskraft» liegt ein physiologisches Mißverständnis vor, da man den Druck der gefüllten Blase, die bei kleinen Kindern eine Erektion bewirkt, in früherer Zeit allgemein verkannte. Weil das Kind im Vollbesitz des Einklangs, der Harmonie, weil es in reiner Übereinstimmung mit sich selbst ist, darum ist sein Schreien nicht Zeichen innerer Mißstimmung und Unordnung, überreizt daher das Stimmorgan nicht, und dies bleibt immer rein und klar. So sind auch alle Äußerungen des Menschen von vollendeter Tugend fortwährend freundlich und gleichmäßig sanft, weil er (wie voll hervorbringender Kraft, so auch) voll innerer Übereinstimmung, voll Harmonie, ist.

Einige der Verse fanden sich schon früher zitiert (Kap. 16, 30). «Den Einklang kennen» kann nur heißen, zum Bewußtsein jener Übereinstimmung mit sich selbst gekommen zu sein, und bezieht sich natürlich nicht mehr auf das Kind. Denn jene innere Harmonie, die in reiner Einheit stehende innere Mannigfaltigkeit, oder vielmehr die Einheit, welche diese Mannigfaltigkeit durchdringt und enthält, diese Harmonie, welche beim Kind Voraussetzung und unbewußt war, ist bei dem vollendet Tugendlichen nun bewußtes Resultat und Erreichung seiner Bestimmung, damit aber Eingang in den Zustand der Ewigkeit. Die Erkenntnis dieses höchsten Ziels, welches mit der Rückkehr in Tao (Kap. 16) identisch ist, gibt daher Erleuchtung, das innere Licht.

«Voll, in Fülle leben» besagt, sich in die Mannigfaltigkeit des Lebens zerstreuen und dadurch jene innere Harmonie vergessen und verlieren. «Unseligkeit», eigentlich Vorzeichen künftiger Ereignisse, Glück, Segen, aber auch Unheil, Unsegen. Die Hingebung des Herzens an den Lebensodem (vgl. Kap.10), an die sinnliche Lebenskraft, seine Knechtschaft unter diese heißt zwar kräftig, stark sein; allein damit verfällt man auch dem bloß natürlichen Gesetz. Dies Naturseelische des Geschöpfes kehrt nicht zu Tao zurück, insofern ist es taolos zu nennen. Da es keine eigene Einheit, diese vielmehr nur an dem Wesen hat, das zu Tao zurückgeht, so fehlt ihm als solchem die Vorbedingung des Ewigseins (Harmonie), und hat jenes sich in, durch und mit ihm entwickelt, so geht es durch Altern oder Ergreisen seinem Ende zu (vgl. Kap. 30). Wer sein Lebenszentrum daher in dies Naturseelische schickt und dadurch äußerlich erstarkt, muß als taolos bald enden.
 
 


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