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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 56



Der Wissende redet nicht,
der Redende weiß nicht.
«Seine Ausgänge schließt er,
Macht zu seine Pforten,
Er bricht seine Schärfe,
Streut aus seine Fülle,
Macht milde sein Glänzen,
Wird eins seinem Staube.»
Das heißt tiefes Einswerden.

Darum ist er unzugänglich für Anfreundung,
unzugänglich für Entfremdung,
unzugänglich für Vorteil,
unzugänglich für Schaden,
unzugänglich für Ehre,
unzugänglich für Schmach.

Darum wird er von aller Welt geehrt.
 
 



 

Die zweite Hälfte des Kapitels deutet an, daß auch die erste auf die Regierenden zu beziehen ist, trotz zunächst allgemeiner Geltung; ferner wird das Verfahren des an Tugend Vollendeten aufgezeigt. - Ein rechtes Erkennen, seinem Gegenstand zugekehrt, trachtet sich zu vervollkommnen und vermeidet deshalb, sich in Reden über denselben gegen andere zu ergießen, da ihm am besten bekannt ist, wie wenig es noch immer an ihn heranreicht. Denn alle Gegenstände des Erkennens sind unendlich, endlich aber ist das Erkennen. Weil es dies weiß, findet es sich nie reif genug, um redend seinem Gegenstand genugzutun. Ja, das Beste, was der echte Wahrheitsforscher erkannt hat, ist nicht mitteilbar, ist unaussprechlich. Wer viel redet von dem, was er erkannt habe, beweist dadurch, daß seine geistige Tätigkeit noch an seinem Gegenstand umherfährt, noch nicht in ihm selbst aufgeht, daß er die Größe und Tiefe desselben noch nicht kennt und das, was eigentlich gewußt sein will, nicht weiß. - Die Allgemeinheit dieses Ausspruchs hindert nicht, anzunehmen, daß Lao-Tse noch das «kennen, wissen» der ersten zwei Verszeilen im vorigen Kapitel im Sinn gehabt.

Die folgenden Verse waren schon teils im Kap. 52 (vgl. auch Kap. 6, Komm., 10), teils im Kap. 4 angeführt. Sie beziehen sich hier auf den Wissenden, der im vorigen Kapitel der die Tugend in vollem Maß Besitzende genannt wurde. Von ihm wird nicht nur gesagt, daß er sich von dem sinnlichen Verkehr mit der Außenwelt abschließt, sondern auch, wie er sich derselben zukehrt. Denn, ähnlich Tao (Kap. 4 direkt auf Tao bezogen), bricht auch er den Menschen gegenüber der durchdringenden Schärfe seines Wesens die verletzende Spitze ab, teilt seinen inneren Reichtum an sie aus, bringt seinen Glanz in Einklang mit ihnen und identifiziert sich mit den Allerniedrigsten.

Das tiefe Einswerden oder die mystische Union ist auf das Verhältnis zu Tao zu beziehen, mit welchem der heilige Mensch sich in den genannten Stücken gleich und eins erweist. Weil er stets im Bewußtsein, in der Gegenwärtigkeit des Höchsten und der Ewigkeit lebt, dabei allen äußeren Einflüssen den Zugang wehrt und sich doch des Niedrigsten wie sein selbst annimmt, so können alle aufgezählten Beweggrunde, die das Verfahren gewöhnlicher Menschen zu beeinflussen pflegen, ihn nicht veranlassen, den einen vorzuziehen, den anderen zurückzusetzen oder von Recht und Wahrheit abzuweichen. Eine solche Unbestechlichkeit, die sichtlich auf Verhältnisse deutet, wie sie bei Regierenden vorkommen und oft von Einfluß sind, macht den, der sie beweist, obwohl ihn auch Ehrung und Schmähung darin nicht irre macht, doch von aller Welt geehrt.
 
 



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