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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 58



Wessen Regierung recht zurückhaltend,
dessen Volk kommt recht empor;

Wessen Regierung recht durchspähend,
dessen Volk verfällt erst recht.

Unglück, oh!, das Glück beruht darauf,
Glück, oh!, das Unglück liegt darunter.

Wer kennt ihren Gipfel?
Ist seine Regierung nicht redlich:
Die Redlichen werden zu Schelmen,
die Guten werden zu Heuchlern.
Des Volkes Verblendung,
ihr Tag währt lange!

Daher: Der heilige Mensch ist
gerecht und nicht verletzend,
aufrichtig und nicht beleidigend,
gerade und nicht willkürlich,
leuchtend und nicht blendend.
 
 
 



 


Das heisst: ist die Regierung schwach, wird das Volk stark (steigt auf), ist die Regierung stark, wird das Volk schwach (verfällt); Yin und Yang, Tun und Nicht-Tun, deuten sich an. Zu Grunde liegt der Gedanke, daß eine Regierung, die alles bestimmen, sich in alles einmischen und für alles sorgen will, die freie Entwicklung des Valks hemmt und dessen Kräfte lähmt, eine solche aber, die dem Volk die möglichste Freiheit läßt, ihm am förderlichsten ist.

Eine Regierung, die alles beachten will, meint jedem Unglück abhelfen, das Glück eines jeden sichern zu sollen, greift damit aber in die Weltordnung ein und wirkt nachteilig auf die sittliche Spannkraft der Menschen. Aber nicht nur das soll hier gesagt sein, sondern auch, daß Glück und Unglück, dem Verhalten des Menschen gemäß, sich auseinander entwickeln. Wer sein Unglück weise benützt, wird dadurch sein Glück gründen. Denn des Unglücks Zweck ist, die sittlichen Kräfte des Menschen, die dessen Glück begründen, zu wecken und zu stählen.

Das Glück, das nicht so errungen ist, das zufällige Glück, ist eine Prüfung des Menschen, ob er dadurch seine sittliche Kraft lähmen und sich zu Selbstsucht, Übermut und Genußsucht verleiten lasse. Erliegt er diesem ethischen Unglück, so folgt dem auch das äußerliche nach. Dies alles gehört der sittlichen Weltordnung an, und es ist daher eine falsche Regierungsweise, in solche Verhältnisse fortwährend von oben her einzugreifen und gleichsam Vorsehung zu spielen, da man ja gar nicht weiß, worauf jenes Unglück oder dieses Glück hinauslaufen wird. Denn dies sagt die Frage: Wer kennt ihren Gipfel, ihren Ausgang?

Der im vorigen Kapitel zu Anfang stehende Satz, daß nur mit Redlichkeit heilsam regiert werde, wird weiter ausgeführt. Redlichkeit umfaßt Geradheit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Billigkeit, und wo der Herrscher diese nicht hat, wo seine Regierung «jene» unredlich ist (statt dessen hier Textvariante, in Zusammenhang mit vorhergehendem Satz: jener [Gipfel] hört nicht auf), da zerstört sie die ethische ,Atmosphäre des Volks, verwirrt das sittliche Urteil, verführt zur Nachahmung; die Redlichen werden zu Unredlichen, Arglistigen, Schelmen (vgl. Kap. 57, Komm.), die Guten zu Schöntuern, Schmeichlern, Heuchlern; beide tadelnden Ausdrücke deuten auf das «seltsam, wunderlich» des 57. Kapitels. «Ihr Tag» bezeichnet die lange Dauer von des Volks Verblendung, womit die sittliche Verfinsterung gemeint ist, welche sich als Unredlichkeit und Heuchelei darstellt.

In Anbetracht solcher Folgen unredlichen Regierens, also nicht nur um seiner selbst, sondern auch um des Volkes willen, ist der heilige Mensch, wenn er regiert, gerecht, eigentlich «rechteckig», und «schindet nicht», verletzt keinen; er ist unverdorben und maßvoll, eigentlich «kantig», und beleidigt nicht; er ist ehrlich, d.h. er bleibt aufrichtig im geraden Weg und verfährt nicht willkürlich. Endlich ist er leuchtend, Licht verbreitend; aber er verdunkelt anderen die Augen nicht mit seinem Licht, er blendet nicht, und eben dadurch zeigt er ihnen den Weg, seinem Vorbild nachzufolgen.

 
 

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