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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 60




Man regiere ein großes Land,
wie man kleine Fische brät.
Verwaltet man das Reich mit Tao,
so geistern seine Manen nicht.

Nicht nur seine Manen geistern nicht,
seine Geister verletzen die Menschen nicht.

Nicht nur seine Geister verletzen die Menschen nicht,
auch der heilige Mensch verletzt die Menschen nicht.

Sie beide verletzen miteinander nicht,
denn die Tugend verbindet und eint sie.
 
 
 


Für das Regieren empfiehlt sich, wie für das Braten von kleinen Fischen, Schonung und Zurückhaltung, da bei unvorsichtigem Vorgehen und Eingreifen der natürliche Prozeß gestört und das Ganze zerfallen und verderben wird. Der Rest des Kapitels hat Schwierigkeiten und ist mehrdeutig. Zuerst fragt sich, wie er mit dem ersten Satz zusammenhängt. Wie man auch auslegt, jedenfalls ist gesagt, daß gewisse übersinnliche Wesen die Menschen nicht beschädigen würden, wenn die höchste Reichsperson mit oder durch Tao regiert. Führt so der Herrscher mit Schonung und Zurückhaltung für alle Untertanen eine heilsame Regierung, dann wird dieser Erfolg sich auch darauf erstrecken, daß jene übersinnlichen Wesen seine guten Gesinnungen gegen die Menschen teilen, und wie er diese so wenig verletzt als der Koch die Fischlein, so werden auch jene sie nicht verletzen.

Für die weitere Erklärung kommen die Ausdrücke «kueï» und «schên» in Betracht. Die Grundbedeutung von « kueï » ist: «wozu der Mensch zurückkehrt», das was beim Untergang des Körpers von ihm übrigbleibt, die abgeschiedene Menschenseele, die Manen.

«Schên», im Gegensatz von «kueï», sind Genien oder Dämonen, Wesen, die von jeher und ihrer Art nach Geister sind und mancherlei Macht und Einfluß auf die irdischen Dinge ausüben. (Gebraucht man «schên» stets prädikativ, so ist im Text nur von den «kueï» die Rede, die «sich als Geister verhalten», und von deren «Geistern»; die «schên» als solche sind dann ausgeschaltet; ebenso kann die doppelte Negation ohne «nur» als Bejahung genommen werden.)

Jedenfalls stehen die Geister der Abgeschiedenen und der Natur mit der Menschenwelt in Beziehung, und ihr Wirken ist bald auf Beschädigung, bald auf Begünstigung der Menschen gerichtet. Sie werden die Menschen schonen und sich zurückhalten, wenn ein heiliger Mensch das öffentliche Leben durch Tao bestimmt. Denn vermöge einer gegenseitigen Beziehung ruft seine Tugend, seine wohlwollende Gesinnung, auch die ihrige hervor, und so ist es die Tugend, welche sie miteinander vereinigt.

Dies dürfte die Absicht des Kapitels sein, welches zugleich den ausschweifenden Volksglauben an die Geister auf ein bestimmtes Maß bringen und die Furcht vor ihnen durch den Glauben an die segensreichen Folgen des Festhaltens an Tao zerstreuen sollte.
 
 

 
 

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