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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 64




Was ruht, wird leicht gehalten,
Was sich noch nicht zeigt, wird leicht verhütet,
Was zart ist, wird leicht gebrochen,
Was fein ist, wird leicht zerteilt

Tue das, wenn es noch nicht da ist,
Regle das, wenn es noch nicht in Unordnung ist.

Ein umfangreicher Baum
entsteht aus haarfeinem Sproß,
Ein neunstöckiger Turm
erhebt sich aus einem Häuflein Erde,
Eine Reise von tausend Meilen
beginnt mit einem Schritt.

Wer tut, dem mißlingt,
Wer nimmt, der verliert.

Daher:
Der heilige Mensch tut nicht,
darum mißlingt ihm nichts,
nimmt nicht,
darum verliert er nichts.

Das Volk, das einem Geschäft nachgeht,
ist stets nahe am Vollenden, und dann mißlingt es ihm.
Sorgt man für das Ende wie für den Anfang, dann mißling kein Geschäft.

Daher:
Der heilige Mensch
begehrt, nicht zu begehren,
schätzt nicht hoch Güter schweren Erwerbs,
lernt, nicht ,zu lernen,
und kehrt um, wo die meisten Menschen überschreiten.

Allen Wesen verhilft er zu ihrer Freiheit
und wagt doch nicht, zu tun.
 
 



 

Das Kapitel ist erläuternde Ausführung zum vorigen. Alle Anfänge sind unmerklich und gering, die des Schlimmen wie die des Guten, und jene werden zuerst betrachtet. Solange nur erst seine Vorbedingungen vorhanden sind, ist es selbst noch ein Ruhendes, nicht Erregtes, und so ist es noch leicht zu handhaben, zu halten. Es ist dann wie ein Samenkorn, dem man die Möglichkeiten des Keimens entzieht. Wenn diese schon hinzugekommen sind, es sich aber noch nicht andeutet, noch nicht zeigt (eigentlich von weissagenden Zeichen, s. Kap. 20, Komm.), so kann man seiner Entwicklung zuvorkommen, sie «planen» und verhüten.

Wird es aber erregt und deutet sich bereits an, ja kommt hervor, so ist es doch zuerst immer zerbrechlich, zart und dünn, fein, und auch so ist es leicht zu brechen, zu zerstreuen oder zu zerteilen. Es ist noch zu beherrschen, zu beseitigen. Und dies «tue im Nochnicht-Sein», nämlich das Halten, Verhüten, Brechen, Zerteilen; d.h. es soll dies geschehen, wenn es noch nicht da ist. Ebenso soll jenes Halten usw. geregelt werden, solange das, was noch ruht usw., «in Nochnicht-Verwirrung », noch nicht in Unordnung, in Aufruhr ausgebrochen ist.

Die drei Gleichnisse, welche die Entstehung des Großen und Kleinen zeigen, unterscheiden sich, indem das erste das organische Wachstum aus zartestem Keim durch stetige Selbstausdehnung, das zweite das Zunehmen aus kleinem Anfang durch fortwährendes äußeres Hinzukommen, das dritte das Groß werden durch dauernde Wiederholung des Anfangs darstellt. Baum, Turm und Reise werden zuerst in ihrer Größe genannt, um dann zu zeigen, wie gering ihr Anfang gewesen und wie leicht man da ihrer Vergrößerung noch hätte Einhalt tun können. - Eine chinesische Meile (li) ist ca. 600 m lang, «Schritt» ist ausgedrückt durch «unter Fuß», was unter dem Fuß ist.

Es werden nun die das Tun angehenden Gedanken des vorigen Kapitels weiter ausgeführt und auf das Nehmen, Sich zueignen, mitangewandt. Welches Tun Lao-Tse verwirft, ist schon mehrfach bemerkt worden. Wesentlich ist es das eigennützige, selbstische Tun, wozu auch das doktrinäre Machen gehört, bei welchem der Mensch, seinem Denkprodukt dienend, im Grunde auch nur sich selber dient. Alles selbstische Tun aber geht unter, mißlingt an seinem Zweck; denn es tritt in Widerspruch mit der sittlichen Ordnung und nimmt dadurch den Keim der eigenen Verderbnis, der Selbstzerstörung, in sich auf.

Weil das Tun der Menschen im allgemeinen so beschaffen ist, darum nennt Lao-Tse es das Tun; Mit dem sich Zueignen ist es nicht anders; es ist nur eine besondere Art des selbstischen Tuns und die ihm innehaftende Selbstvernichtung ist der Verlust. In diesem Sinn kann der heilige Mensch weder tun noch nehmen, da er vom Selbstischen frei ist. Von dem Tun wird, wie im Anfang des vorigen Kapitels, zu dem Geschäft fortgeschritten. Daß der heilige Mensch sich diesem nicht zu entziehen habe, wenn er es auch nicht als Geschäft verrichtet, ist vorausgesetzt.

Das Volk hat immer nur Geschäft. Warum ihm, d.h. dem gewöhnlichen Menschen, sein Geschäft stets mißlingt, auch wenn es nahezu vollendet ist, wird damit erklärt, daß er auf dessen Ende nicht gleiche Aufmerksamkeit wendet wie auf den Anfang. Das Ende eines Geschäfts ist dessen Zweck; nur wer diesen fest im Auge behält, und zwar ebenso fest wie am Anfang - denn der Zweck ist schon am Anfang und erzeugt den Anfang - nur der wird den Zweck auch erreichen, worin die Vollendung des Geschäfts besteht. Darin liegt, daß das Geschäft Mittel zu seinem Zweck bleiben muß, also weder selbst zum Zweck werden, noch anderen Zwecken dienen darf; denn beides verwandelt das Geschäft aus einem Mittel zu seinem Zweck in ein Mittel zu selbstischen Zwecken. Von diesen aber wird der gewöhnliche Mensch geleitet; sie rucken ihm den objektiven Zweck aus den Augen, und hat er sie erreicht oder ist er ihrer Erreichung gewiß, so hat die Vollendung keinen Wert mehr für ihn, er vernachlässigt sie, und die eigentliche Aufgabe kommt nicht zustande: das Geschäft mißlingt.

Da auch der heilige Mensch sein Geschäft, seine Aufgabe hat, deren Ende und Vollendung er stets beachten muß, «daher» verhält er sich so, wie die folgenden Sätze sagen. Alle Begierden würden ihn ablenken von seinem hohen Ziel; darum begehrt er nicht; ja, das Einzige, was er begehrt, ist das Nichtbegehren. Deshalb legt er auch keinen Wert auf solche Gegenstände, die, weil sie kostbar und selten, auch schwer zu erwerben sind (Kap. 3); sie erregen in ihm nicht die Begierde, sie zu besitzen, und kein Streben danach entfremdet ihn seiner Aufgabe.

Wie Lao-Tse mit den Worten «er begehrt, nicht zu begehren» einen Unterschied macht zwischen Begehren und Begehren, so macht er ihn auch zwischen Lernen und Lernen. Welches Lernen er verwirft, sahen wir bereits in Kap. 20 und 48. Dieses Lernen zu verneinen, gehört zum Lernen des heiligen Menschen; denn es ist ein Lernen, welches das Wissen als Zweck, nicht als Mittel behandelt, welches nur das Wissen anderer in eigenes Wissen verwandelt, ohne den Menschen sittlich zu ergreifen und zu veredeln. Wie das Gleichgültigsein gegen kostbare Besitztümer sich verhält zum Begehren des Nichtbegehrens, so verhält sich zum Lernen des Nichtlernens das Umkehren bei den Überschreitungen der Menschenmenge. Denn jene Gleichgültigkeit läßt das schlechte Begehren nicht aufkommen, dieses Umkehren nicht das schlechte Lernen.

Das Sittliche ist demnach als Gegenstand des Lernens gedacht, und dieses ist verwerflich, sofern es nur auf das Wissen des Sittlichen ausgeht, das an sich nicht vor Überschreitungen oder Übertretungen schützt. Das Umkehren ist das sittliche Verhalten selbst, und damit setzt Lao-Tse dem schlechten Lernen das inhaltvolle Leben entgegen. (Die Stelle kann auch übersetzt werden: «er kehrt um zu dem, woran die meisten Menschen vorüberschreiten».)

Indem aber so der heilige Mensch auf alles Selbstische verzichtet, lebt er nur für andere. Allen Wesen verhilft er zu ihrem «von selbst so», d.i. zu ihrer Freiheit oder Selbständigkeit und Natürlichkeit; denn nichts anderes ist es, wenn jemand so, wie er ist, von selbst ist. Dieses Helfen, dieses «Nicht-Tun», ist wohl ein Wirken und Tun, aber durchaus verschieden von dem Tun um des Tuns willen, dem selbstwilligen Machen, den sogenannten großen Taten, wodurch man in den natürlichen Verlauf der Dinge eingreift. Dieses Tun zutun, wagt der heilige Mensch nicht.
 
 

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