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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 66




Wodurch Ströme und Meere
die Könige der hundert Flüsse zu sein
vermögen,
ist, daß sie sich ihnen gut untertun.
Darum vermögen sie, die Könige der hundert
Flüsse zu sein.

Daher:
Der heilige Mensch,
wünscht er über dem Volk zu sein,
muß mit dem Wort sich ihm untertun.
Wünscht er dem Volk voranzugehen,
muß mit der Person sich ihm nachstellen.

Daher:
Der heilige Mensch
bleibt oben,
und das Volk ist unbeschwert,
bleibt voran,
und das Volk ist unbeschädigt.

Daher:
Alle Welt freut sich, ihm zu gehorchen,
und wird es nicht müde.

Weil er nicht streitet,
darum vermag keiner in der Welt
mit ihm zu streiten.
 
 



 

Im Anschluß an die letzten Worte des vorigen Kapitels wird ausgeführt, wie jene tiefe Tugend eines heiligen Menschen, wenn er Herrscher sei, beschaffen sein muß, um große Nachfolge oder Folgsamkeit zu erreichen; daher wird an einem Gleichnis gezeigt, daß dem bedeutenden Mann, wenn er demütig und selbstlos ist, sich jedermann zuneigt und ihm den Vorrang gerade dann einräumt, wenn er ihn nicht in Anspruch nimmt. Abermals ein Anklang an das Wort «Wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden».

Alle Gewässer eilen gehorsam Strömen ,und Meeren zu und erkennen sie willig als ihre Gebieter, aber nur darum, weil diese, obwohl sie die Größeren und Mächtigeren sind, sich- nicht über sie erheben, vielmehr in trefflicher Weise sich unter sie erniedrigen. Diese Tatsache, daß gerade die Erniedrigung sie zu Herrschenden macht, erscheint so bemerkenswert, daß bestätigt wird, das sei der Grund, weshalb sie aller Flüsse (w.: Täler) Könige zu sein vermögen.

Dem heiligen Menschen, als König gedacht, ziemt der Wunsch, über dem Volk zu sein, dann muß er aber in Wort und Rede sich dem Volk untertun, sich unter dasselbe stellen. Dem Volk vorangehen, bezeichnet dieselbe Autorität wie über dem Volk sein, nur daß hier die Stellung, dort die Führung hervorgehoben wird; und mit seiner «Person» zeigt, daß der heilige Mensch nicht nur im Reden, sondern auch in seinem tatsächlichen Verhalten seine Person und seine persönlichen Interessen dem Volk, den Interessen der Gesamtheit nachstelle und unterordne.

Weil der heilige Herrscher in Wort und Wirklichkeit sich selbst dem Volk nachordnet, so bleibt er oben, ohne daß er dem Volk dadurch schwer, lästig, drückend wäre; er bleibt voran, ohne daß er beschädigt, verletzt wird. Denn seine Worte wie sein Verhalten bezeugen, daß die Sorge für das Wohl des Volks ihm über alle persönlichen Anliegen gehe.

Weil es dem Volk nicht verborgen bleiben kann, daß es der hohen, führenden Stellung des heiligen Herrschers Glück und Wohlstand verdankt, so ordnet sich alle Welt (oder das ganze Reich) mit Freuden ihm unter und wir dessen nicht satt, überdrüssig oder müde. «Gehorchen» heißt wörtlich: zurückweichen, nachgeben, das Zeichen, anders gelesen, heißt: stoßen, treiben, befördern, verzichten, erwählen; obiges Wort ist hier passend.

«Weil er nicht streitet», d.h. anderen nichts streitig macht, nichts vor anderen voraushaben will, darum vermag keiner in der Welt (oder im Reich) mit ihm zu streiten, da zu jedem Streit mindestens zwei gehören, die streiten wollen.



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