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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 67




Alle in der Welt nennen mich groß,
weil ich aus der Art geschlagen scheine.
Aber nur, weil man groß ist,
darum scheint man aus der Art geschlagen.

Wenn einer nicht aus der Art geschlagen ist,
lange, wahrlich, währt seine Unbedeutenheit.

Nun habe ich drei Schätze,
die ich bewahre und schätze:

Der erste heißt: Barmherzigkeit,
der zweite heißt: Genügsamkeit,
der dritte heißt: Nicht wagen, im Reich voran zu sein.

Barmherzigkeit, darum kann ich kühn sein,
Genügsamkeit, darum kann ich ausgeben,
Nicht wagen, im Reich voran zu sein,
darum kann ich der Beamten Herr sein.

Gegenwärtig verschmäht man Barmherzigkeit
und ist doch kühn,

verschmäht Genügsamkeit
und gibt doch aus,

verschmäht Zurücken
und ist doch voran.

Das führt zum Tod!
Ist man barmherzig im Kampf,
dann siegt man, in der Verteidigung,
dann widersteht man.

Wem der Himmel helfen will,
den schützt er durch Barmherzigkeit.
 
 
 


In diesem Kapitel will Lao-Tse denen, die in der Regierung sind oder an ihr teilhaben, drei Tugenden empfehlen, die seinen Mitlebenden abhanden gekommen sind. - Der Anfang ist mehrdeutig, namentlich durch das Wortspiel von «aus der Art geschlagen» (pu siao), was ursprünglich «nicht (pu) ähnlich, gleich, klein, Art, nacharten (siao)» bedeutet und letzteres in der Aussprache, wenn auch nicht im Tonfall, dem üblichen Schriftzeichen für «klein» (siao) entspricht; «scheinen» heißt wörtlich: «ähneln, gleichen». Danach lautet der Text genauer:

Alle in der Welt nennen mich (nach anderer Lesart: mein Tao, meinen Weg) groß,
gleich nicht Ähnlichem.
Aber nur (der ist) groß,
darum gleicht er nicht Ähnlichem.
Wenn er ähnlich wäre,
lang dauernd,
(wäre) seine Winzigkeit.

Der Sinn ist: Die Menschen nennen Lao-Tse (oder seinen Weg) groß als einen solchen, der sich von der herkömmlichen Weise entferne und aus der Art geschlagen sei. Wenn es nun auch wahrer Größe immer eigen ist, aus dem Wandel nach väterlicher Weise herauszutreten, so dürfte es sich doch nicht schicken, dass man sich selbst groß nennt; daher ist der zweite Satz allgemein gefaßt (ohne das Wort «ich»). Die ihn für einen Sonderling halten, sind selbst die in der herkömmlichen Art Gebliebenen, die nur jedermanns gewöhnliche kleine Straße zu gehen wissen und so ihre Unbedeutenheit und Kleinheit auf lange, auf Geschlechter Folge  beweisen. Aus diesen Zeilen spricht jedenfalls das Bewußtsein eigener Bedeutsamkeit und kühne Stellungnahme gegen das hochgeschätzte Herkömmliche und die ererbte Weise.

Als die Vorteile, welche die treue Bewahrung der drei Kleinode gewähre, nennt Lao-Tse in betreff der Barmherzigkeit (eigentlich die herabsteigende Liebe wie von den Eltern zum Kind, die mitleidige Liebe und Güte), daß sie ermögliche, tapfer, mutig, kühn zu sein.

Genügsamkeit, Sparsamkeit (Kap. 46, 59) mache ihm möglich, «groß oder weit zu sein», hier soviel wie «ausgeben, freigiebig sein». Da er für sich wenig, für Unnützes nichts verwendet und sich zu genügen weiß, so kann er um so mehr für das Nötige und für andere tun. Und durch seinen Mangel an Ehrgeiz, weil er nicht wagt, der Vorderste im Reich zu sein (Kap. 66), darum kann er der Brauchbaren, der Beamten (Kap. 28), Herr, Erster, sein.

In allen drei Stücken unterscheidet sich Lao-Tse von den Mitlebenden und erscheint ihnen auch deshalb, wie überhaupt (Kap. 20), anders als alle anderen und daher wie aus der Art geschlagen. Hier aber rückt er ihnen ihre Torheit vor, daß sie ohne die erforderlichen Voraussetzungen das tun, was nur vermöge dieser durchführbar ist. Und hier folgt das einzige Wort: «Tod!» oder «sterben». Unbarmherzigkeit, sinnlose Übermäßigkeit oder Verschwendung und hoffartiger Ehrgeiz führen zu einem schlimmen Tod.

Schließlich wird erklärt, weshalb man kühn sein könne, wenn man erbarmende Liebe habe, denn dann sei man beim Kämpfen des Siegens, beim Verteidigen des festen Behauptens gewiss; dies ermöglicht die Barmherzigkeit gegen die Feinde (vgl. Kap. 69). Hier, wie überhaupt in, den Kapiteln 68, 73, 77, 79, 81, bedient sich Lao-Tse der gewöhnlichen volksüblichen Bezeichnung der höchsten Macht durch «Himmel». Dieser steht den Menschen bei, durch sittliche, geistige Einwirkung, indem er, ihm das jenige ins Herz gibt - und immer gibt er dem guten Menschen (Kap. 79), -, wodurch, ihm Rettung und Heil werden kann.

Dann zeigt sich, daß die Barmherzigkeit als etwas vom Himmel Verliehenes betrachtet wird; denn. dieser ist es ja, der den Menschen schützt durch, die Barmherzigkeit, die der Mensch hat. Nicht also schützt der Mensch selbst sich durch die Barmherzigkeit, die er erweist, sondern dadurch schützt der ihn, der ihm diese Barmherzigkeit gibt.




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