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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 70




Erkennen das Nicht-Erkennen,
ist das Höchste.
Nicht erkennen das Erkennen,
ist Krankheit.

Nur wen die Krankheit kränkt,
der ist dadurch nicht krank.

Der heilige Mensch ist nicht krank,
weil ihn seine Krankheit kränkt.

Daher ist er nicht krank.
 
 
 
 
 
 

Das Kapitel schließt sich an das vorige an; das Schriftzeichen für «erkennen, wissen, verstehen» wurde nur verschieden wiedergegeben. Lao-Tses Worte werden nicht verstanden, weil das Prinzip, dem sie entstammen, nicht erkannt wird, und es wird nicht erkannt, weil die Menschen den Mangel dieser Erkenntnis, an welchem sie kranken, nicht verspüren. Dieses höchste Objekt der Erkenntnis wäre aber nicht, was es ist, wenn es nicht als solches erkannt wird, das die Erkenntnis zugleich unendlich überragt. Wird es erkannt, so ist es dem Erkennen zwar immanent, aber als Transzendentes. Daher hat das Erkennen, Wissen das Unbedingte und Unbegrenzte nur, sofern es im Verhältnis zu ihm seine Bedingtheit und Begrenztheit, d.h. sein Nicht-Erkennen, erkennt, um sein Nicht-Wissen weiß, was das Höchste (w.: oben) ist. Auch das sokratische Wissen des Nichtwissens hat nur so seine große Bedeutung und würde wenig sagen, wenn es nur von dem Nichtwissen dessen redete, was man wohl wissen könnte und andere auch vielleicht wüßten.

Könnte dem Absoluten auch nur ein absolutes Erkennen gerecht werden, und ist uns dieses versagt, so vermögen wir es doch bedingt zu erkennen, sofern es dem Erkennen nicht nur transzendent, sondern auch immanent ist, und auf diesem Erkennen beruht jede bewußte Beziehung des Menschen zu dem Unbedingten. Diese Beziehung macht erst den Menschen zu einem vollen und  gesunden Menschen. Auch sie ist zwar immer nur annähernd zu erreichen, aber wer auch dieses Erkennen nicht erkennt, um dieses Wissen nicht weiß, der leidet an einem anormalen Zustand, an einer Krankheit.

Wenn einen nur diese «Krankheit kränkt», d.h., wenn er nur den anormalen Zustand als solchen (kranken und kränkenden) fühlt und begreift, so tritt er «dadurch» über ihn hinaus; er ist insofern nicht krank. Nicht, als ob der normale Zustand dadurch hergestellt wäre; aber das Bewußtsein ist über ihn erhoben; es wird nicht mehr von der Krankheit beherrscht; es beherrscht sie bereits durch ihre Erkenntnis.

Auch bei dem heiligen Menschen besteht die geistige Gesundheit nur in dem stetigen Überwinden und Beherrschen der Krankheit, und immer wird das schmerzliche, kränkende Gefühl in ihm bleiben, daß diese noch nicht überwunden ist. Insofern er dies aber fühlt und erkennt, ist auch seine Krankheit - in dem bekannten Hegelschen Doppelsinn - aufgehoben: der heilige Mensch als solcher ist nicht krank, und seine jetzt nur noch im relativen Sinn vorhandene, weil stetig verneinte Krankheit ist keine Krankheit in dem Sinn zu nennen, in welchem sie es bei dem ist, der sich dem Erkennen überhaupt abwendet.
 
 
 



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