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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 73




Hat man Mut, zu wagen,
dann tötet man,
hat man Mut, nicht zu wagen,
dann läßt man leben.
Dieses Beides ist bald nützlich,
bald schädlich.

«Was dem Himmel ist verhaßt,
Wer erkennt, warum ist das ?»

Daher:
Der heilige Mensch hält es für schwer.

Des Himmels Weg ist:
«Er streitet nicht, und weiß zu überwinden,
Er redet nicht, und weiß Antwort zu finden,
Er ruft nicht, und man kommt von selbst vor ihn;

Langmütig weiß er plangemäß zu leiten,
Des Himmels Netz faßt weite Weiten,
Klafft offen - und läßt nichts entfliehen.»
 


Das Kapitel hängt mit dem vorigen und dem nachfolgenden zusammen. Als Subjekt des Anfangssatzes ist daher ein solcher gedacht, der die Todesstrafe verhängen oder auch nicht verhängen kann. (Anstatt «tötet» nach anderer Auslegung: wird getötet, statt «läßt leben»: bleibt leben.) Den Tod zu verhängen, ist ein Wagnis; was man dabei wagt, wagt man nicht, wenn man begnadigt; aber zu beidem gehört Mut; denn man nimmt eine große Verantwortlichkeit auf sich.

Bezieht sich « dieses beides» auf das Töten und Leben lassen, so sagt der Satz, daß sowohl Todesurteil wie Begnadigung bald nützlich, bald schädlich sein können. Denn nützlich ist beides, wenn es dahin trifft, wo es hingehört, schädlich eines wie das andere am unrechten Ort; zweifelhaft aber ist, wie es damit im einzelnen Fall sei. Unter allen Umständen soll nur das gestraft werden, zumal mit dem Tod, «was der Himmel haßt». Die eigentliche Ursache dieses Mißfallens aber ist dem Menschen verborgen: «wer kennt dessen Ursache?»

Denn der Mensch sieht nur, was vor Augen ist; die Gottheit richtet nach dem, was er nicht sieht, und doch soll er richten, was ihr mißfällig ist. Daher wird dem heiligen Menschen die Entscheidung schwer, weil er den Grund dessen nicht kennt, was dem Himmel verhaßt ist, weil ihm die Gesinnungen und Motive nicht zugänglich sind, aus denen die Tat entsprungen, die er richten soll, und weil er daher leicht fehlgreifen und  ebenso leicht das Nützliche wie das Schädliche tun kann.

Die nachfolgenden Verse ebenso wie der vorherige Reimspruch, ein Zitat, zeigen, wie im Unterschied von dem rasch zufahrenden Menschen der Himmel gegen die Missetäter verfährt, was den heiligen Menschen, sofern er ihm nachahmen kann, noch bedenklicher macht, ihm aber auch den Trost verleiht, daß der Übeltäter, wenn dessen Begnadigung auch einmal ein Fehlgriff ist, doch der endlichen Bestrafung nicht entgehen wird. «Des Himmels Weg», Verfahren, Weise, soll an das große Prinzip erinnern, das in gewisser Hinsicht mit dem Himmel als identisch zu denken ist, so daß man auch allenfalls sagen könnte: «Des Himmels Tao.»

Die himmlische Macht, sich niemals unmittelbar kundgebend, weiß doch sich überall geltend zu machen; ihr muß alles unterliegen, entsprechen und gehorchen. In den drei ersten  Verszeilen ist ihre Wirkung wohl vornehmlich im Gewissen angedeutet; da überwindet sie, ohne zu streiten, da antwortet sie, ohne zu reden, da muß man vor ihr erscheinen, ohne daß sie dazu aufruft. So langmütig der Himmel ist, so weiß er doch vorauszuplanen - sagt dasselbe wie: «Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich fein, ob aus Langmut er sich säumet, bringt mit Schärf er alles ein.»

Die allumschließende Strafgewalt Gottes wird auch in der Heiligen Schrift mit einem Netz verglichen. Weit, weit ist es, so daß die schon Gefangenen noch frei zu sein meinen; es ist so grobmaschig, so durchlässig, daß ihnen selbst das Entkommen noch leicht erscheint; gleichwohl geht ihm nichts verloren: die Strafe des Himmels ergreift den Schuldigen unentfliehbar.
 
 

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