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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 75




Das Volk hungert,
weil seine Oberen zuviel Abgaben verzehren.
Deshalb hungert es.

Das Volk ist schwer zu regieren,
weil seine Oberen zu tun haben.
Deshalb ist es schwer zu regieren.

Das Volk achtet den Tod gering,
weil es Lebensüppigkeit sucht.
Deshalb achtet es den Tod gering.

Nur wer nichts um des Lebens willen tut,
ist weise gegen den, der das Leben hochschätzt.
 
 



 

Die Wirksamkeit der Todesstrafe zur Verhinderung von Verbrechen führte das vorige Kapitel auf die Furcht des Volks vor dem Tod zurück. Nachdem empfohlen war, mit Todesstrafen sparsam und weise und nicht ohne ordentliche Strafrichter vorzugehen, hört man gleichsam einwenden: Wie ist das möglich, da Hunger und Not das Volk zu Verbrechen reizen und dasselbe zu Widerstand und Empörung geneigt ist? Und wie kann man dem Volk die Wertschätzung des Lebens einpflanzen? Das Kapitel gibt die Antwort.

Die Regierenden selbst, die Oberen, sind schuld an dem Hunger des Volks; sie nehmen ihm zuviel an Abgaben weg, um selbst damit in Üppigkeit zu leben. Da die Abgaben großenteils in Naturalien und Bodenerzeugnissen bestanden, so mußte ihre Übersteigerung in den schon damals zahlreichen Bevölkerungen sofort Mangel hervorrufen, und der Ausdruck, daß die Abgaben verzehrt, eigentlich «gegessen» würden, ist daher passend. Mochte bei dem ausschweifenden Leben und den großen Gastereien der zahlreichen Hofhalte auch viel im eigentlichen Sinn aufgezehrt werden, so ist dies auch im weiteren Sinn zu verstehen von aller Verwendung zu unnötigem und vermeidlichem Aufwand, wie Prunkbauten, Militärbudgets usw.

Wird hier über die Unbotmäßigkeit des Volks geklagt, so wird auch daran die Schuld den Regierenden gegeben; denn sie «haben zu tun», d.h. sie nehmen Zeit und Kräfte des Volkes für ihre Unternehmungen, Bauten und Anlagen, Jagden und Kriegszüge in Anspruch, während sie zugleich die natürliche Freiheit durch geschäftiges Viel-regieren unleidlich beschränken und mit schweren Strafen das Volk willfährig machen wollen.

Während die Fürsten auf jene Weise dem Volk Nahrung, Erwerb und Freiheit entziehen, geben sie und ihre Zugehörigen ihm zugleich das Beispiel und Schauspiel eines üppigen Lebensgenusses (Kap. 53) und erregen dadurch bei ihm die Begierde nach gleichem «Lebensübermaß». Und weil ihm dies Verlangen unter solchen Umständen versagt bleibt, erzeugt sich in ihm der Lebensüberdruß, der ihm den Tod gleichgültig macht (Kap. 72). Leben ist hier nicht das bloße Fortbestehen, sondern der Lebensgenuß. Im Vergleich mit dem, der auf den Lebensgenuß Wert legt, ist nur der weise zu nennen, der nichts um des Lebensgenusses willen tut. Diese Weisheit kann der Menge nur zugänglich werden durch das Vorbild seiner Oberen, und ihnen vor allem gilt der Satz. Tut der Regierende nichts um des Lebens willen in jenem Sinn, macht er sich nichts aus dem Leben, so wird er weder durch Abgaben das Volk bedrücken, es auch nicht durch sein Beispiel verleiten, seine Einfachheit mit Aufwand und vielartigem Genuß vertauschen zu wollen, und während er selbst seine Geistesklarheit und Seelenruhe nicht durch das unbefriedigende Streben nach falschen Gütern zerstört, verfällt auch das Volk nicht den zuvor beklagten Übeln; es hungert nicht, ist leicht zu regieren und schätzt das Dasein.
 
 

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