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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 77




Des Himmels Weg,
wie gleicht er dem Spannen des Bogens!
Das Hohe bringt er nieder,
das Niedere bringt er hoch.

Das Übervolle mindert er,
das Nichtgenügende ergänzt er.

Des Himmels Weg ist:
das Übervolle zu mindern,
das Nichtgenügende zu ergänzen.

Des Menschen Weg ist nicht so:
er mindert das Nichtgenügende,
um es dem Übervollen darzubringen.

Wer vermag Übervolles dem Reich darzubringen?
Nur der Tao hat.
Daher:
Der heilige Mensch
wirkt und gibt nichts darauf.

Ist Verdienstliches vollendet,
besteht er nicht darauf.

Er wünscht nicht, seine Weisheit
sehen zu lassen.
 
 



 

Es ist eine wesentliche Weisheit des Regierenden, die Macht, die er über die Verteilung irdischer Glücksgüter ausübt, zur Ausgleichung der verschiedenen Lose der Menschen zu handhaben und dabei die Fülle der Güter, die bei ihm zusammen f1ießen, ohne Werkheiligkeit und Eitelkeit zum Besten des Reichs zu verwenden, was aber nur der imstande sein wird, zu tun, der Taos teilhaftig, somit ein heiliger Mensch ist. Denn so ist auch des Himmels «Weg», womit auf Tao hingedeutet wird. Er «erniedert das Hohe und hebt das Untere», wie man beim Spannen des aufrecht gehaltenen Bogens das obere Ende herab- und das untere hinaufzieht. So nimmt auch der Himmel denen, die zuviel (Überfluß) haben, und gibt denen, die zuwenig (nicht genug) haben. Ein ähnlicher Gedanke findet sich 1. Sam. 2, 7. «Jahweh macht arm und macht reich, er erniedrigt und erhöht»; in unserer Stelle dient das letzte zum Gleichnis des ersteren.

Mit dem Menschen ist der Mächtige, der Regierende, gemeint; er wird als Mensch bezeichnet, weil er nach seiner menschlichen Natur verfahrt und diese der Weise des Himmels entgegengesetzt ist, wenn sie nicht Tao folgt. Der Herrschende sollte den in seine Hände gelangenden Überfluß samt dem, was ihm an dem Seinigen von Überfluß sein kann, dem Reich, d.h. den Untertanen und vor allen denen, die nicht genug haben, darbringen; dies aber geschieht in der Regel nicht (Kap. 75). Anders darin zu handeln, als die Menschen nach ihrer Natur zu tun pflegen, ist nur der imstande, «der Tao hat», d.h. dem das höchste Prinzip auch höchstes Motiv für sein Verhalten ist. Der heilige Mensch ist es, der Tao hat, und daher «tut», wirkt er, was danach von ihm gefordert ist, und vollbringt Verdienstliches; allein, da er sich bewußt ist, daß er nur durch Tao es vermag, so «macht er nichts aus» seinem Tun, wörtlich: stützt sich nicht darauf, und verweilt nicht bei seinem Verdienst; er geht darüber hinweg (Kap. 2). Solches Verfahren kann nur aus rechter Weisheit, sittlich-geistiger Bedeutsamkeit, hervorgehen; allein, er verfährt so nur gerade hin, weil er Tao hat, nicht um seine Weisheit sehen zu lassen, nicht damit er sich weise weiß.
 
 

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