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Lao Tse - Das Tao te King - Mit Erläuterungen von V.v. Strauss

Buch 2 - Kapitel 78




Nichts in der Welt ist
weicher und schwächer als Wasser,
und doch nichts,
was Hartes und Starkes angreift,
vermag es zu übertreffen,
es gibt nichts,
wodurch es zu ersetzen wäre.

Schwaches überwindet das Starke,
Weiches überwindet das Harte.

Keinem in der Welt ist es unbekannt,
aber keiner vermag es zu üben.

Daher:
Der heilige Mensch sagt
«Tragen des Landes Unreinigkeiten,
Das heißt, voran beim Kornopfer schreiten.
Tragen des Landes Not und Pein,
Das heißt, des Reiches König sein.»

Wahre Worte sind wie umgekehrt.
 
 


Den Herrschern Milde, Nachgiebigkeit und Hingebung zu empfehlen, denn diese Tugenden sind unter Weichheit und Schwäche gemeint, wird nun gezeigt, daß man damit auch am meisten durchzusetzen vermag (Kap. 36, 43, 76). Das Wasser muß jeder für den nachgiebigsten, lindesten Körper erkennen, und doch ist es in seinen stillen, allmählichen Einwirkungen auf das Harte und Starke unwiderstehlicher als irgend etwas, das dies sonst angreifen könnte. Dies bezieht sich auf das Abspülen von Gebirgen, das Zerwaschen von Felsen, Zerschwemmen von Gebäuden, Auflösen von Erz und Eisen durch Oxydation usw.; steter Tropfen höhlt den Stein; nichts anderes kann an die Stelle des Wassers treten.

All das ist aus Erfahrung keinem unbekannt, und doch ist keiner fähig, es anzuwenden, zu üben, keiner außer dem heiligen Menschen, dem eben nicht die milde Demut, die nachgiebige Liebe, die hingebende Selbstlosigkeit fehlt. Nach seinem Zitat legt der Regierende sich selbst in uneigennütziger Herablassung das auf, was das Land verunreinigt und befleckt. Das Hirseopfer, das jährlich bei der Sonnenwende dem Geist der Erde dargebracht wird, war ein Vorrecht des  Kaisers (Königs) in Vertretung des ganzen Volks. Wer also das, was durch des Volks Verirrungen und Sünden den Staat befleckt, auf sich selbst nimmt und als das Seine trägt, der verdient in Wahrheit, der königliche Stellvertreter des Volks vor den oberen Mächten zu heißen. Not und Pein sind die unglücklichen Ereignisse, welche den Staat in seinem natürlichen Bestand treffen, wie feindliche Überfälle, Mißernten, Hungersnöte, Seuchen, Überschwemmungen. Wenn der Regierende auch diese als sein eigenes Unglück trägt, so bezeugt das seine selbstlose Hingebung an das Volk und adelt ihn als dessen echten König und Herrscher.

Die Schlußworte sind vielleicht ein Reimspruch. «Wer Wahrheit lehrt, spricht wie verkehrt. » Echte Wahrheit klingt paradox. Das Wort des Evangeliums: «Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen», und das Wort des Apostels: «Wenn ich schwach bin, so bin ich stark», sind Paradoxa wie die unseres Kapitels.
 
 


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