[home]  [meine Homepages]  [ich]  [gedichte / texte]


 

Ein Brief an A.


Wußtest du, daß Tulpenblütenblätter aussehen wie saubere, geputzte Vogelfedern? Aus dem Zentrum, dort, wo Stempel und Pollengefäße, ebenfalls verankert sind, wachsen sie hervor, und strecken sich, Parabeln gleich, in den Himmel, mit einem Unterschied jedoch. Ihre erdachte Weiterführung endet nicht in einer Berührung in der Unendlichkeit. Nämlich kurz bevor das Blatt zu Ende ist, knickt es um und drängt so die Assoziation eines halbierten Eis auf. Nur die Spitze ist verlorengegangen. Und tatsächlich hat ist ja der Knospe die Form des Lebenssymboles zu eigen.

Doch sind die dreimal zwei Blütenblattgruppen erst einmal geöffnet, dann entströmt diesem Kelch ein Gefühl von Geborgenheit. Dies steigt dir mit dem Duft entgegen, und wie oft wünschte ich mir schon als Kind in diese süßliche, geborgene, duftende Welt hinein zu klettern, die zarten Blätter um mich schließend dann dem Spiel des Sonnenlichtes auf der zarten Haut beizuwohnen. Nicht nur das Licht sehen, nein, ich wollte es spüren. In der leuchtend - farbigen Kühle des Kelches geborgen auf das Morgen warten. So nur einmal, für einen Tag dem grauen Wartesaal des Lebens entwichen. Geborgen in einer Blüte der Natur, die selbst bald vergangen ist.

Es ist für Menschen oft sehr wichtig, glaube ich, daß gerade auch schöne Dinge sehr vergänglich sind. Nur durch das nahe und bedingende Ende sind wir in der Lage, das Schöne zu erahnen und uns der Betrachtung hinzugeben. Diese begrenzte, anschauliche Anmut schlägt uns nicht den Mantel der verzweifelnden Ewigkeit ins Gesicht, der uns die Einsamkeit auf der Welt spüren läßt.

Warum treibt die Tulpe diese drei Außen- und Innenblätter mit solcher sorgfältigen Liebe hervor? Diese zwei Dreiergruppen, an deren Anfang, neben der innen und außenblattspeziefischen Sternzeichnung, je ein Staubgefäß anliegt. Wo ist die Idee, die dieser Viertagevergänglichkeit zu Grunde liegt?

Wieviel Menschen wollen immer Dinge für die Ewigkeit erschaffen? wollen im Geschichtefluß als Name stehen? Doch hört die Ewigkeit des Menschen nicht schon nach einhundert Jahren auf? Wie doch auch die Tulpenewigkeit schon nach fünf Tagen zu Grunde geht? Wie kann man sich etwas vorstellen, das über die eigene Lebensspanne hinaus geht? Sind es nicht Phantastereien, Vision-Bilder, die aus den Farben der Furcht gezeichnet werden? Pflaster für den Trost, die das Eigentliche zudecken?

Die Tulpe lebt, sie fragt nicht. Und könnte ich ihr Tulpenewigkeiten schenken, meinst du, sie würde sie haben wollen? Das Hinauszögern des Unvermeidlichen, des Existenzniederganges?
- Der Mensch will nun Worte hören, will nun einen Augenblick das Gefühl von Kraft vermittelt bekommen. Oh, A., ich kann es ihnen so schwer geben!

Und kennst du diesen Schmerz der physikalischen Welt? Diesen wirklichen Schmerz unter dem linken Muskulus pectoralis major et minior? Dieses beklemmende Gefühl im Herzen. Die Augen des Sterbenden sehen dich an. Meine Augen sind aber doch auch die eines Sterbenden. Nur mit einem Unterschied. Er weiß, was in drei Tagen mit ihm geschieht.

Tränen. Sie rinnen einfach aus den Augen, verlanden im sterilen Weiß des Bettlakens. Hattest du auch schon diesen Wunsch nach Nähe und Liebe, wie zwei Tränen es haben können? Zwei Tropfen im Meer; so nah möchte ich einem Menschen sein können, mit ihm verschmelzen. Kann zwischen Tropfen im Ozean irgend etwas sein?

Die Augen sehen dich an. Wer bin ich denn, daß ich hier was geben kann? Nur ich? Ein Krankenzimmer ist zum Glück etwas völlig steriles. Es hat keine Vergangenheit, keine Zukunft. Der eine geht, der andere kommt. Wieder das Warten auf den Tod. Wartezimmer Leben? Es stirbt sich so schwer in dieser kalten Welt. Angst vor dem eigenen Tod, was kommt dann? Für die Tulpe ein neuer Frühling, für uns Kälte, Lehm. Doch auch Tulpenzwiebeln gehen zugrunde. Und wenn man nie aus der Zwiebel hervorgekommen ist, sondern aus Furcht wartete bis der Spaten des Gärtners oder die Grablust des Hundes einem ein Ende setzte, was hat es einem dann gebracht?

Selbst wenn es kein «Danach» gibt, als Zwiebel gelebt zu haben, wenn doch das Bild der Blume in einem schlummert, würden viele als Dummheit bezeichnen. Doch ist es das wirklich? Ich weiß es nicht. Viel zu viele der »Dummheit-brüller« sind selbst nur Zwiebeln. Sie leben abgekapselt in ihrem Schneewittchensarg, warten auf ihren Gordo-Märchenprinzen, der sie wach küßt. Doch es gibt zuwenig Königssöhne.

- Und nun, was sage ich auf die Tränen des Fragenden, die nach einem Sinn rufen? Ich kann ihm nur eine Blume vor die Augen halten. Oh Andreas, es ist so kalt hier! Im Krankenhäusern sind Blumen nicht kleine Diamanten des Lebens, Schmuckstücke der begreiflichen Vergänglichkeit, sondern Keimträger. Und der Sonnenuntergang, dem man vom Fenster aus beiwohnen kann? Auch hier ist die gleiche Idee, wie sie die Blume hat, nur ist die stille Ewigkeit der Sonne etwas unüberschaubar Langes.

Auch hier wird in der Betrachtung kurz die Tür zu einem Gefühl, das spüren läßt, daß etwas da ist, geöffnet, aber schnell zieht sich auch der Vorhang der Einsamkeit zu, treibt einem die eigene Nichtigkeit vor Augen. Und Einsamkeit ohne Blumen ist für eine sterbende Zwiebel schwerer, als für die, die noch lebt und die Blume in sich trägt und leben kann.

Es stirbt sich schnell auf der M8. Einige kommen nur deswegen her. Es ist hier ihr Ziel. Kurze Besucher, die unseren Arbeitstrott ins wanken bringen, die uns mit Fragen konfrontieren. Warum weiß ich keine Antwort? Schweigen und einfach ins Leben springen, ist das nicht alles, was zählt? Doch da sind so viele Ausreden. Weißt du, was uns von den Zombies unterscheidet? Sie schlafen ewig, wir nur für ein kurzes Leben. Ich fühle mich so einsam, keiner ist da der mich in den Arm nimmt. Doch warum auch?

Was ich mir nicht selber geben kann, kann es mir ein anderer vermitteln?
 
 



 

Ein weiterer Brief an A.


Mein Mülleimer quillt über, der Kühlschrank ist mit seiner Aufgabe, etwas vor dem Verderben zu bewahren, völlig unter fordert, was soll er denn kühlen, und ich schleppe mich so schlafend durch den Nachmittag, weiß einfach nicht, wie ich mich wachhalten soll. Aber nach einer Frühdienstwoche ist das wohl normal.

Und mit welcher Arroganz erwartet man da von einem Patienten mehr Motivation? Fordert ihn auf, aktiv mitzuarbeiten. Woher soll er die Motivation nehmen? Er, der 195 cm groß und noch 57,3 Kg schwer ist? Die größte körperliche Leistung, welche er mit fast stündlicher Genauigkeit ausübt, ist der Gang zum Raucherzimmer, dem Aufenthaltsraum. Hier sitzen sie, die «morituri te salutant» Rufer, sprechen über sich, das Sterben im allgemeinen. Tauschen sich und ihre Krankheitserfahrungen aus.

In den Kliniken gelten Raucher oft als die Menschen, die am besten zu mobilisieren sind. Sie gehen für eine Zigarette nicht nur Meilen, sondern auch durch die Hölle. Welche Gedanken mögen mit den Rauchschwaden, die schwer im Zimmer hängen, aufsteigen. Welche Erinnerungen sind mit diesen Momenten verknüpft? Damals, bei der ersten Zigarette, dieser kindlichen Dummheit, die noch die Verbindung zum Erwachsensein mit diesem Glimmstengel sah, damals war man noch negativ, hätte nie diese Bedeutung des Wortes für möglich gehalten.

Und heute, mit der Positiv-Diagnose in der Hand, lebt es sich nicht mehr so. Welche Träume soll man noch träumen, bei einem Leben auf Raten? Was gibt es noch in einem an AIDS erkrankten Leben, wenn alle Ideen, Wünsche, Planungen durch das entzerrende Raster des Todes gesehen werden?

Ein anderer Patient liegt in seinem Bett, zitternd. Die Temperatur steigt unaufhaltsam und rasch an. Bald sind 38,6°C erreicht. Blutentnahme. Untersuchung auf Erreger. Der Mann ist kachektisch. Früher fragte ich mich immer nach der Bedeutung des Satzes, «auf den Rippen Klavier spielen können», heute habe ich die Ähnlichkeit zwischen dem ausgezehrten Körper und der Tastenanordnung des Instrumentes gesehen. Besser kann man es nicht beschreiben.

Die Blutkultur ist nach gut zwölf Stunden ausgewertet, die Erreger waren Staphülokokken, nun wird mit Staphülex therapiert, der Patient entfiebert, bleibt über Nacht stabil. Manchmal ist ein Uni-Krankenhaus doch vorteilhaft. Das Personal freut sich über solche Erfolge, es bleiben hier auch meist die einzigen.

Die Zimmer sind schön. Zwei- oder Einbettzimmer, mit eigener Naßzelle, in der sich eine große Dusche, ein Waschbecken und eine Toilette befinden. Die Holzeinbauschränke strahlen eine wohlige Wärme aus, die Stühle sind modern und mit Stoff bezogen. Wären da nicht die funktionalen Betten, der Nachttisch und die Versorgungsleiste, man könnte die Räume für Hotelzimmer halten.
Es sind angenehme Wohn-Schlaf-Zimmer und doch, eigentlich sind es Todeszellen. Für den ein oder anderen zwar mit Aufschub, aber wer einmal hier gelegen hat, der wird auch hier sterben. Mal sind es noch Jahre, mal auch nur einige Wochen.

Und genau diese bedingungslose Konsequenz, Andreas, ist der Unterschied zu den anderen Stationen, auf denen ich bisher gearbeitet habe. Sicher, auch dort gab es Leukämie oder Hepatitis-C. Aber der Hoffnungsschimmer war noch nicht am Horizont von der Nacht verschluckt worden.

Doch wer hier zu uns kommt, führt nur noch das Leben auf Raten. Wartet schon irgendwo auf den Tod, hat sein Ende schon vor Augen. In den letzten Tagen mußte ich oft an Herrn ST. von der U1 denken. Er hatte wenigstens die Station wieder verlassen können. Sein Zustand hatte sich wieder verbessert. Anfänglich war er so:

Ein Bademantel schleicht langsam über den Flur. Nein, besonders auffällig ist er nicht. Seine Farben sind in einem schlichten gelb/braunem Streifenmuster angeordnet, der Stoff ist aus Frottee.

Auch die Gestalt, welche von dem Morgenrock ummantelt wird, ist nicht weiter auffallend. Älter scheint der Mann schon zu sein, so um die 70, aber man sieht es ihm nicht richtig an. Seine Haare sind zwar hier und da von einigen grauen Strähnen unterbrochen, doch im Großen betrachtet ist die Farbe schwarz und sie fallen dicht. Sein Körper ist gut genährt, jedenfalls scheint es so. Unter dem Bademantel trägt er ein OP- oder auch Engelhemdchen. Es ist am unteren Saum mit Blut beschmiert, dort, wo auch der Schlauch die Verbindung zum Katheder herstellt. In dem Urinbeutel, welcher wie eine Colt-Tasche am Gürtel hängt, ist fleischsaftfarbender Urin gesammelt.

So schleicht der Besitzer des Mantels über den Gang, sucht in den Schränken nach seiner Frau, spricht mit den Wänden, läuft durch eine Traumwelt, sein früheres Leben.

Ein Bewegungstherapeut schlendert neben ihm her, steckt ihn dann ins Bett zurück, weiß nicht, was er mit ihm machen soll, mit ihm, dem verwirrten, alten Mann, der von Hundertschaften erzählt, von vergangener Kriegsgefangenschaft und vielen anderen Dingen, welche ein Mensch mit um die 70 Jahren Lebenserfahrung.

Auf das Geheiß eines jungen Pflegers darf der Patient das Bett wieder verlassen, sich in einen Stuhl setzen. Er wird gefüttert, auch wenn SIE lieber Nahrungsanreiche sagen, und dementsprechend bevormundet. Größe und Zusammenstellung der mundgerechten Happen ist vom Personal vorgegeben, des Gespräch wird geleitet, der Mensch nicht ernst genommen. Mit welchem Recht urteilt ein Mensch über einen anderen, dessen Bildungsstand er gar nicht kennt? Fraglich, ob er ihn überhaupt begreift.

Mit welcher Arroganz straft das Leben seine Vertreter?

 
 


[zurück]
 

[home]  [meine Homepages]  [ich]  [gedichte / texte]



© baraka | bernd schach